Der Traum von einer geschwisterlichen Welt
Einführung von Jürgen Erbacher
Enzyklika
FRATELLI TUTTI
des Heiligen Vaters Papst Franziskus
über die Geschwisterlichkeit
und die soziale Freundschaft
[Vorwort] 1 »Fratelli tutti«1 schrieb der heilige Franz von Assisi und wandte sich damit an alle Brüder und Schwestern, um ihnen eine dem Evangelium gemäße Lebensweise darzulegen. Von seinen Ratschlägen möchte ich den einen herausgreifen, mit dem er zu einer Liebe einlädt, die alle politischen und räumlichen Grenzen übersteigt. Er nennt hier den Menschen selig, der den anderen, »auch wenn er weit von ihm entfernt ist, genauso liebt und achtet, wie wenn er mit ihm zusammen wäre«.2 Mit diesen wenigen und einfachen Worten erklärte er das Wesentliche einer freundschaftlichen Offenheit, die es erlaubt, jeden Menschen jenseits des eigenen Umfeldes und jenseits des Ortes in der Welt, wo er geboren ist und wo er wohnt, anzuerkennen, wertzuschätzen und zu lieben. 2 Dieser Heilige der geschwisterlichen Liebe, der Einfachheit und Fröhlichkeit, der mich zur Abfassung der Enzyklika Laudato si’ anregte, motiviert mich abermals, diese neue Enzyklika der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft zu widmen. In der Tat wusste sich der heilige Franziskus, der sich als Bruder der Sonne, des Meeres und des Windes verstand, noch viel tiefer eins mit denen, die wie er von menschlichem Fleisch waren. Er säte überall Frieden aus und ging seinen Weg an der Seite der Armen, der Verlassenen, der Kranken, der Ausgestoßenen und der Geringsten.
Ohne Grenzen
Erstes Kapitel DIE SCHATTEN EINER ABGESCHOTTETEN WELT
Träume, die platzen
Das Ende des Geschichtsbewusstseins
Ohne einen Plan für alle
Der Ausschuss der Welt
Menschenrechte, die nicht universal genug sind
Konflikt und Angst
Globalisierung und Fortschritt ohne gemeinsamen Kurs
Die Pandemien und andere Geisseln der Geschichte
Ohne menschliche Würde an den Grenzen
Die Täuschung der Kommunikation
Aggressivität ohne Scham
Information ohne Weisheit
Unterwerfung und Selbstverachtung
Hoffnung
Zweites Kapitel EIN FREMDER AUF DEM WEG
Der Hintergrund
Der Verlassene
Eine Geschichte, die sich wiederholt
Die Personen
Wieder neu beginnen
Der Nächste ohne Grenzen
Der Aufruf des Fremden
Drittes Kapitel EINE OFFENE WELT DENKEN UND SCHAFFEN
Darüber hinaus
Der einzigartige Wert der Liebe
Die fortschreitende Öffnung der Liebe
Offene Gesellschaften, die alle integrieren
Unzureichendes Verständnis der universalen Liebe
Über eine Welt von Menschen seinesgleichen hinausgehen
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
Universale Liebe zur Förderung der Menschen
Das moralisch Gute fördern
Der Wert der Solidarität
Die soziale Funktion des Eigentums neu denken
Rechte ohne Grenzen
Die Rechte der Völker
Viertes Kapitel EIN OFFENES HERZ FÜR DIE GANZE WELT
Die Beschränkung von Grenzen
Die gegenseitigen Gaben
Fruchtbarer Austausch
Unentgeltliche Annahme
Lokal und universal
Lokalkolorit
Der universale Horizont
Aus der eigenen Region
Fünftes Kapitel DIE BESTE POLITIK
Populismus und Liberalismus
Populär oder populistisch
Werte und Grenzen der liberalen Sichtweisen
Die Internationale Macht
Eine soziale und politische Liebe
Die Politik, derer es bedarf
Die politische Liebe
Wirksame Liebe
Die Tätigkeit der politischen Liebe
Die Opfer der Liebe
Liebe, die integriert und versammelt
Mehr Fruchtbarkeit als Erfolge
Sechstes Kapitel DIALOG UND SOZIALE FREUNDSCHAFT
Der gesellschaftliche Dialog auf eine neue Kultur hin
Gemeinsam aufbauen
Die Grundlage des Konsenses
Konsens und Wahrheit
Eine neue Kultur
Die Begegnung, die zur Kultur geworden ist
Die Freude, den anderen anzuerkennen
Die Freundlichkeit zurückgewinnen
Siebtes Kapitel WEGE ZU EINER NEUEN BEGEGNUNG
Von der Wahrheit her neu beginnen
Die Architektur und das Handwerk des Friedens
Vor allem mit den Geringsten
Wert und Bedeutung von Vergebung
Der unvermeidliche Konflikt
Berechtigte Kämpfe und Vergebung
Die wahre Bewältigung
Erinnerung
Vergebung ohne Vergessen
Krieg und Todesstrafe
Die Ungerechtigkeit des Krieges
Die Todesstrafe
Achtes Kapitel DIE RELIGIONEN IM DIENST AN DER GESCHWISTERLICHKEIT IN DER WELT
Die tiefste Grundlage
Die christliche Identität
Religion und Gewalt
Aufruf
[Schluss]
Gebet zum Schöpfer
Ökumenisches Gebet
ANHANG DES VERLAGS
Themenschlüssel
Zitierte Namen und Dokumente
Bibelstellen
Anmerkungen
Über die Autoren
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Der Traum von einer geschwisterlichen Welt
Einführung von Jürgen Erbacher
Es ist ein düsteres Bild, das Papst Franziskus in seiner neuen Enzyklika von der Welt im 21. Jahrhundert zeichnet. Egoismus, Ausbeutung von Mensch und Natur, ein Wirtschaftssystem, das nach dem Gesetz des Stärkeren funktioniert, technischer Fortschritt, der keine Ethik kennt, reiche Länder, die sich gegen Arme und Migranten abschotten, eine politische Debatte, die von nationalistischen und populistischen Tönen bestimmt ist, und soziale Netzwerke, die das Attribut »sozial« eigentlich nicht mehr verdienen. Doch er verfällt nicht in Pessimismus und resigniert, sondern er zeigt Wege auf, wie sich die Weltgemeinschaft wieder aus dieser Sackgasse herausmanövrieren kann. Die Lösung ist einfach und zugleich ganz schwer. Die Welt muss vom »ich« zum »wir« übergehen. »Ausgehend von der ›sozialen Liebe‹ ist es möglich, zu einer Zivilisation der Liebe voranzuschreiten, zu der wir uns alle berufen fühlen können. Die Liebe kann mit ihrer universalen Dynamik eine neue Welt aufbauen, weil sie nicht ein unfruchtbares Gefühl ist, sondern vielmehr das beste Mittel, um wirksame Entwicklungsmöglichkeiten für alle zu finden« (FT 183).
Bei der Lektüre des Lehrschreibens kam mir eine Geschichte in den Sinn, die Franziskus bei einer Begegnung mit italienischen Jugendlichen im August 2018 erzählt hat und die in den fast 290 Abschnitten der neuen Enzyklika immer mitschwingt. Franziskus erzählte: »Einmal hat ein Priester mich gefragt: Sagen Sie mir, was ist das Gegenteil von ›ich‹? Und ich bin naiv in die Falle getappt und habe gesagt: Das Gegenteil von ›ich‹ ist ›du‹. – Nein, Herr Pater: Das ist die Saat des Krieges. Das Gegenteil von ›ich‹ ist ›wir‹. Wenn ich sage: Das Gegenteil bist du, dann mache ich Krieg; wenn ich sage, das Gegenteil des Egoismus ist ›wir‹, dann schließe ich Frieden, dann stelle ich Gemeinschaft her, dann bringe ich die Träume von Freundschaft, von Frieden voran.«
In dieser Episode kommt ein Motiv vor, das Franziskus gern bei Treffen mit Jugendlichen anspricht: das Träumen. Immer wieder habe ich diese Aufforderung bei den zahlreichen Jugendtreffen im Rahmen von Papstreisen rund um den Globus gehört: Hört nicht auf zu träumen! »Verwandelt die Träume von heute in die zukünftige Wirklichkeit«, so Franziskus etwa zu den italienischen Jugendlichen. »Die großen Träume sind jene, die Fruchtbarkeit schenken. Sie sind in der Lage, Frieden zu säen, Geschwisterlichkeit zu säen, Freude zu säen.« Genau das will Papst Franziskus mit »Fratelli tutti« erreichen. Er träumt einen großen Traum, der als Fruchtbarkeit Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit säen will.
Читать дальше