Die Reihen lichteten sich. Die Frau des Gärtners war nach der Urteilsverkündung – ihr Mann wurde in eine Irrenanstalt eingeliefert – weggezogen. Auch ihre Tochter Johanne gehörte nicht mehr zum Reich Gottes, seit sie mit Oscar von der Molkerei verheiratet war und schon vier Monate nach der Hochzeit einen kleinen, sommersprossigen Sohn bekommen hatte. Dieser Oscar, er stammte aus Kopenhagen und war neu in der Gegend, also fast ein Ausländer, gehörte ja zu den Roten. Und was die Eltern Johanne an christlichem Gehorsam gelehrt hatten, kam nun dem Antichrist zugute. Früher hatte Johanne Pastor Norregaard-Olsens kleines Kirchenblatt ausgetragen, jetzt fuhr sie am Sonntagvormittag mit dem Rad von Haus zu Haus und verkaufte das „Arbejderbladet“. Sie war ein fügsames Wesen, das tat, was man ihm sagte.
Der Nähzirkel der Damen wurde immer kleiner. Frau Bäcker Andersen und Frau Hofbesitzer Madsen waren unter den letzten, die standhielten. „Frau Andersen und Frau Madsen sind der feste Stamm“, sagte der Pfarrer mit müdem Lächeln. Frau Andersen brachte noch immer Kranzkuchen zu den Abenden des Nähzirkels im Pfarrhaus mit und die anderen Damen abwechselnd die Kaffeebohnen, doch die reichten meistens geradeso aus, und für den Haushalt des Pfarrers blieb keine Bohne mehr übrig.
Auch Höschen-Marius’ Haushälterin hielt dem Zirkel die Treue und brachte eingeweckte Erdbeeren und Johannisbeergelee mit ins Pfarrhaus; doch die Zeit würde bald kommen, wo sie nicht mehr Haushälterin war, denn das Aufgebot für sie und Marius war bereits bestellt. Die Damen betrachteten ihre Figur, doch die sah unverändert aus; wie sollte wohl auch ein fruchtbares Zusammenleben mit Marius möglich sein, der sich nicht für den Menschen zu interessieren schien, sondern nur für die äußere Hülle, der des Nachts herumschlich und weibliche Unterbekleidung anfaßte, die zum Trocknen aufgehängt war. Und ob die Haushälterin wohl dem Reich Gottes und dem Nähzirkel treu bliebe, wenn sie erst einmal Frau Petersen war?
Marius, den man für gerettet hielt, war nämlich abtrünnig geworden; er kam nicht mehr zur Bibellesung und saß sonntags nicht mehr Bonbons lutschend in der Kirche. Er hatte plötzlich die Überlegenheit und historische Bestimmung der arischen Rasse erkannt, um Aufnahme in Dänemarks Nationalsozialistische Arbeiterpartei gebeten und kämpfte nun aktiv für die moralische Wiedergeburt des dänischen Volkes und für die nationalsozialistische Weltanschauung. Im Gegensatz zu Niels Madsen, der es fertigbrachte, zugleich Nationalsozialist und Christ zu sein, wurde Höschen-Marius eine Art Heide, allein vom Bewußtsein der Vorzüglichkeit seiner Rasse erfüllt. Die Haushälterin behauptete zwar, er sage noch immer sein Abendgebet mit so lauter Stimme her, daß man es nebenan hören könne, aber wer wußte, ob er nicht zu Odin und Thor betete.
Vielleicht hatte es Marius erschüttert, daß er verhaftet und eines Mordes verdächtigt worden war, den der fromme Gärtner begangen hatte, vielleicht hatte das ihn zum Feind der Religion gemacht. Im übrigen fiel es Marius wohl schwer, sich mit mehr als einem großen Gedanken auf einmal zu beschäftigen. Der Gedanke der Volksgemeinschaft und der Bedeutung seiner Rasse erfüllte ihn ganz und gar und ließ keinen Raum für christliche Demut.
Außer Marius war damals ein anderer unschuldiger Mann im Zusammenhang mit dem Mord an Gutsbesitzer Skjern-Svendsen verhaftet worden. Er hieß Olsen, war einmal Diener auf Frydenholm gewesen und ebenso wie Lukas vorbestraft. Der Gutsbesitzer hatte es vorgezogen, vorbestrafte Personen in Lohn und Brot zu haben. Zwischen Olsen und Skjern-Svendsen hatte ein merkwürdiges freundschaftliches Verhältnis bestanden, und in den letzten Lebensjahren des Gutsbesitzers hatte Olsen gewisse geheime Geschäfte zu erledigen gehabt. Olsen verfügte über viele Verbindungen und kannte alle Winkel und Geheimnisse des weitläufigen Schlosses.
Die Mordnacht hatte Olsen auf Frydenholm verbracht, und die Umstände seines Tuns in dieser Nacht waren so verdächtig gewesen, daß die Polizei überzeugt war, niemand anderes könne der Täter sein. Kommissar Odense hatte keine Bedenken gehabt, der Presse die Mitteilung zugehen zu lassen, das Rätsel sei gelöst und der Beweis völlig klar und unumstößlich, obwohl der halsstarrige und verstockte Täter mit dem Geständnis noch zögere. Hätte sich Gärtner Holm nicht selbst dem Ortspolizisten gestellt, wäre möglicherweise Olsen als Mörder verurteilt worden.
Nachdem der Gutshof seinen Besitzer gewechselt hatte, gab es wohl keinen, der noch damit rechnete, Olsen in dieser Gegend wiederzusehen. Eines Tages aber fand er sich mit einem besonderen Anliegen wieder in Frydenholm ein.
Für Egon Charles Olsen hatte sich die anfängliche Gefahr auf wunderbare Weise in einen dauerhaften Vorteil verwandelt.
Aus seiner Zelle im Vestre Fængsel wurde er, wie schon so oft, zum Polizeipräsidium gebracht. Das geschah Ende November 1938 – fast drei Wochen nachdem man Gutsbesitzer Skjern-Svendsen erwürgt in seinem Himmelbett aufgefunden hatte –, und die Frist für die Untersuchungshaft war nahezu abgelaufen. Olsen kannte die Route, und obwohl die Grüne Minna keine Fenster hatte und Luft nur durch eine kleine Luke hereindrang, konnte er nach den Straßengeräuschen genau bestimmen, auf welchem Abschnitt der Strecke sie sich gerade befanden.
Er trug Zivilkleidung; wattierte Schultern, scharfe Bügelfalten, großgestreifter Schlips, ein farbiges Seidentuch, dekorativ in der Brusttasche arrangiert. Sein Haar war pomadisiert, es duftete angenehm und glänzte. Die Untersuchungshaft hatte ihn ein wenig blaß gemacht, ein beleidigtes Lächeln lag auf seinen Zügen. Er ging wie einer, der sich auskennt, neben seinem Begleiter über die gewundenen Sandsteintreppen und durch die langen, mit Fliesen belegten Korridore, die von antiken Bronzeampeln erhellt wurden. Der Begleiter schien ein wenig im Zweifel zu sein über den Weg, sie schritten langsam durch die öden Flure, die an die Katakomben unter dem alten Rom erinnerten und wie Stollen wirkten, die in die Steinmasse des Gebäudes gehauen waren. Als sie in einen kleinen Seitengang einbogen, war sich Olsen im klaren, daß sie nicht den üblichen Weg zu Kommissar Odenses Vorzimmer wanderten, in dem die Verhöre sonst immer stattfanden.
Das Innere des Polizeipräsidiums ist ja bekanntlich kompliziert und geheimnisvoll, und nicht einmal der Reichspolizeichef kennt die Geheimnisse dieses Bauwerkes bis ins letzte. Olsen wußte zwar dort drinnen auf Grund seiner dunklen Vergangenheit recht gut Bescheid, ja, er fühlte sich in dem klassischen Labyrinth beinahe heimisch, auf dieser Wanderung jedoch bemerkte er mit einem gewissen Unbehagen, daß er sich auf fremdem Grund befand.
Sie waren in einem Teil des Polizeipräsidiums angelangt, zu dem gewöhnliche Häftlinge keinen Zutritt hatten. Die Wanderung endete schließlich vor einer hohen, kretischen Tempeltür, auf der mit schmalen patinierten Buchstaben stand:
ABTEILUNG D
2. Inspektorat der Kopenhagener Polizei
Kriminalpolizei
Olsen hatte im Laufe der Jahre ziemlich viel mit der Kriminalpolizei zu tun gehabt, doch diese Abteilung kannte er nicht. Nun ja, Olsen war bei weitem nicht der einzige Bürger des Landes, der von dem stillen Dasein der Abteilung D nichts wußte. Das war keine nach außen glänzende und prahlende Abteilung. Sie führte ein zurückgezogenes Dasein und widmete sich besonderen Angelegenheiten, die nicht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen sollten.
Kurz zuvor hatte der Chef der Abteilung zurücktreten müssen, da ein Unglück bei der Entführung eines deutschen Emigranten das Schweigen um seine Tätigkeit gebrochen hatte; dieser sprachbegabte Detektiv beschäftigte sich zur Zeit mit einigen alten chinesischen Handschriften, die zu untersuchen eigentlich gar nicht Aufgabe der Polizei war. Seitdem verwaltete der beliebte Kommissar Horsens die Karteien der kleinen Abteilung.
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