Während das Flugzeug um sie herum vibrierte und auseinanderzureißen drohte, um sie alle über das tiefe Tal unter ihnen zu verstreuen, war er mit seinen Gedanken schon viel weiter. Er war stets einen Schritt voraus, eine Minute in der Zukunft.
»Das hier soll fliegen sein?«, sagte Gee von dem beengten Platz hinter ihr. »Fliegen beinhaltet eine gewisse Anmut und Kontrolle. Das hier ist eher so was wie ein langer Sturz.«
Wie als Antwort begannen Turbulenzen, den gesamten Flugzeugrumpf zu erschüttern, bevor die Maschine in ihren vorherigen Zustand einer kurz bevorstehenden Katastrophe zurückkehrte. Jenns Herz klopfte wie verrückt. Sie umklammerte den Sitz und Aarons Hand noch fester. Vorne rief der Pilot etwas auf Spanisch und lachte. Das gleiche kehlige Husten, das er ausgestoßen hatte, als Gee der Meinung gewesen war, sein ganzer Stolz sei wohl eher ein Fall für den Schrottplatz.
Jenn meinte, während dieser letzten Turbulenzen etwas zerbrechen gehört zu haben. Der Anblick der Maschine, bevor sie an Bord gegangen waren, hatte fast ausgereicht, um sie die Expedition abbrechen zu lassen und mit der Planung noch einmal von vorn zu beginnen, doch Aaron hatte sie davon überzeugt, dass sie sicher sei. »Ich kenne einen, der kennt diesen Kerl«, hatte er gesagt. »Er lässt das Flugzeug extra so aussehen, um unerwünschte Aufmerksamkeit zu vermeiden. Diese Maschine ist wie dein Dad – äußerlich heruntergekommen, mürrisch und altersschwach, aber hinter der Fassade in perfektem Zustand.«
Die Erinnerung zauberte ein nervöses Lächeln in ihr Gesicht und sie warf einen erneuten Seitenblick zu ihrem Vater. Als Reaktion zog er eine Augenbraue und einen Mundwinkel hoch. Er war Anfang fünfzig und damit der erfahrenste Entdecker unter ihnen. Er hatte genügend Abenteuer hinter sich, um ein Dutzend Bücher zu füllen, sollte er jemals die Muße haben, sie aufzuschreiben. Gelegentlich sprach er vom Ruhestand und dem Schreiben seiner Memoiren, doch sie wusste, dass das noch Jahrzehnte entfernt war. Er war noch nie der Typ gewesen, der zu Hause vor dem Fernseher hockte, selbst wenn er mal einen Fernseher sein Eigen nannte oder überhaupt ein Zuhause. In einer Welt, die unter der übermäßigen Last und Verschwendung der Menschheit litt, gab es immer noch Orte für ihn, die er erforschen konnte. Täler und Inseln, Steppen und Wälder, die vom zerstörerischen Griff der Menschen noch nicht erfasst worden waren, zumindest wenn man nicht zu genau hinsah. Doch das war manchmal sein Problem – dass er zu genau hinsah.
Ihr Vater war immer noch der Mittelpunkt ihrer Existenz, die Sonne, um die sich ihre Welt drehte. Auch wenn Aaron vor ein paar Jahren in ihr Leben getreten war und sie ihn liebte und sich eine Zukunft mit ihm vorstellen konnte, war es ihr Vater, nach dem sie sich orientierte, wenn sie in die große Schwärze blickte.
Von vorn kam ein weiterer Ruf. Sie hielt den Atem an und starrte an Coves Kopf vorbei ins offene Cockpit. Der Pilot schien unfähig, still zu sitzen, fummelte unermüdlich am Armaturenbrett herum, deutete aus dem Fenster, sprach mit sich selbst und schnippte Messanzeigen an.
»Machen Sie es aus und wieder an!«, rief Aaron und Jenn drückte seine Hand fest genug, um sie ihm zu brechen. Vielleicht würde das zumindest das Auseinanderbrechen des Flugzeugs übertönen. Er verzog sein Gesicht, protestierte aber nicht.
Sie trieben im sich windenden Tal nach links und nach rechts und als Jenn aus dem Fenster zu schauen wagte, sah sie, wie die Flügel durch Bäume rasten, Äste abbrachen und Blätter aufwirbelten. Sie waren so nah, dass sie aus dem Fenster greifen und sich eine Frucht hätte pflücken können. Aber ein so waghalsiger Flug war der Preis, den sie zahlen mussten, um dem Radar der Zeds auszuweichen, und dies war eine der Voraussetzungen, um unbemerkt Eden zu erreichen. Wenn die Zeds wüssten, dass sie hier waren, würde man sie verfolgen, bis sie gelandet waren oder abgeschossen wurden. Im Lauf der Zeit hatte sich die Zonenschutztruppe von Ort zu Ort und von Land zu Land in vollkommen unterschiedliche Einheiten aufgeteilt. Der eine Aspekt, der sie jedoch weiter vereinte, war ihre Entschlossenheit und Hingabe.
Nach der Landung war das Team immer noch eine sechsstündige Wanderung von der südlichen Grenze der unberührten Zone entfernt, doch auf diese Weise waren sie noch einigermaßen frisch und voll ausgerüstet, wenn sie in das gefährliche Grenzgebiet eindrangen.
Sie waren dabei, genug Gesetze zu brechen, um alle für lange Zeit im Gefängnis zu landen.
»Seht euch das mal an«, sagte Gee.
Jenn schaute an Aaron vorbei erneut aus dem Fenster. Das steile Tal hatte sich geöffnet und sie konnten das herrliche Farbenspiel eines Sonnenuntergangs über einer Bergkette im Osten sehen. Das Geräusch des Flugzeugmotors änderte sich, als der Pilot noch tiefer ging. Trotz ihrer Flugangst lehnte sie sich an Aaron vorbei, um besser durch das schmutzige, verkratzte Fenster sehen zu können.
Ein nahe gelegener Felshang war von toten Bäumen bedeckt. Die majestätischen Giganten waren nackt und die ausgebleichten Skelette ihres früheren Selbst ragten traurig und steif in den Himmel.
An den Rändern dieser Todeszone klammerten sich einige wenige Bäume noch an ihre Existenz. Ihre Blätter, gesprenkelt von blassem Tod und schwachem, verzweifeltem Leben, hinterließen einen weniger üppigen Gesamteindruck als jene in den angrenzenden gesünderen Wäldern. Es war, als hätte jemand einen Eimer grauer Farbe über dem Hang ausgekippt.
»Seltsam, wie es nicht alle Bäume erwischt«, sagte Cove. Dan Covington, vielleicht der eifrigste Sportler unter ihnen, war sich gleichzeitig am wenigsten der Veränderungen bewusst, die ihren Planeten heimsuchten. Ein neu entdeckter Wunsch, mehr darüber zu erfahren, war der Grund, warum er bei ihnen blieb, anstatt sich einer anderen Gruppe anzuschließen. Sie brachten ihn an Orte, die den meisten anderen verschlossen blieben, und jede Expedition lehrte ihn etwas Neues.
»Die Verschmutzung ist nicht selektiv«, erläuterte Selina. Sie saß hinter Jenns Vater und hatte den Großteil des Flugs so gewirkt, als hätte sie geschlafen. Nun betrachtete sie an Gee vorbei den traurigen Anblick zu ihrer Linken. Obwohl sie die einzige qualifizierte Wissenschaftlerin unter ihnen war und darüber hinaus eine leidenschaftliche Umweltschützerin und Dozentin, ließ sie sich nur selten Emotionen über die Zerstörung der Welt anmerken, deren Zeugen sie so oft wurden. Ihr Vater hatte Jenn erklärt, dass Selinas Seele ebenfalls zerstört sei und sie keine Tränen mehr übrig habe.
»Aber warum einige Bäume und andere nicht?«, fragte Cove.
»Könnte etwas mit der Art zu tun haben. Einige sind anfälliger für Verschmutzung und Klimaveränderungen als andere. Möglicherweise hat es auch etwas mit der Wasserversorgung zu tun. Vielleicht folgt der tote Bereich dem Verlauf eines Bachs, einem Riss im Unterboden oder den Bestäubungsmustern der einheimischen Bienenpopulation. In Malaysia habe ich mal zweihundertfünfzig Quadratkilometer toter Bäume mit fünf Flecken gesehen, an denen etwa fünfzig Bäume noch gediehen. Eines Tages wird jemand eine Abhandlung über die Gründe veröffentlichen. Spielt keine Rolle.« Selina lehnte sich zurück und schloss wieder die Augen. »Nur ein weiterer toter Wald.«
»Sieht fast hübsch aus«, sagte Cove.
»Hübsch wie ein Krebsgeschwür«, erwiderte ihr Vater. Jenn hielt die Luft an und spürte Schuldgefühle hochsteigen, wie immer, wenn sie an das dachte, was sie vor ihm geheim hielt.
»Unsere Frohnatur schlägt wieder zu«, kommentierte Aaron. »Du solltest Stand-up-Comedy machen, Dylan. Du solltest deinen eigenen Motivationskanal haben. Du könntest ihn Depri-Dylan und die …«
»Sagt der Mann, der mit meiner Tochter schläft.«
»Hey!«, schaltete sich Jenn ein. »Das ist für dich tabu.«
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