Stevie zog das Fliegengitter auf und klopfte an die weinrot lackierte Eingangstür. Ein Typ mit Patchworkhose und dicker Strickmütze, aber dafür mit freiem Oberkörper, machte auf.
»Hi«, sagte Stevie. Dann hatte sie einen kleinen Aussetzer, als ihr bewusst wurde, dass sie zu diesem seltsamen Haus gekommen war, um mit den vermutlich genauso seltsamen Leuten darin über etwas zu reden, worüber sie sich im Grunde selbst noch nicht ganz klar war. Da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, hielt sie einfach den Flyer hoch und zeigte auf das Foto.
»Ellie war eine Freundin von mir. Ich glaube, sie war öfter mal hier …«
Schweigen.
»Ich dachte mir … Ich … ich versuche bloß herauszufinden …«
Der Typ trat zurück und hielt einladend die Tür auf.
Das Hauptquartier des Aktionskunstkollektivs Burlington war ziemlich groß. Eine Wand war komplett hinter Bücherregalen verschwunden, vollgestopft bis unter die Decke. Weiter hinten gab es eine kleine Bühne mit einem alten Klavier und einem Haufen anderer Instrumente. Wohin man auch blickte, alles war voller Zeugs. Federboas und Zylinder, halb fertige Töpferprojekte, Trommeln, Yogamatten, Kunstbücher, eine einsame Querflöte, die in einem leeren Aquarium steckte … An einer Wand lag eine Matratze mit zerwühltem Bettzeug auf dem Boden; offenbar diente dieser Bereich jemandem als Schlafzimmer. Die Decke zum nächsten Stockwerk war offen und gab den Blick auf eine breite, mit einem weißen schmiedeeisernen Geländer abgetrennte Empore frei, von der mehrere Transparente hingen. Über allem hing schwerer Salbeiduft.
Außerdem stand in diesem Haus ein Baum. Kein lebendiger – vielmehr sah es aus, als wäre er gefällt und anschließend im Ganzen hineinmanövriert worden. Er füllte eine Ecke des Erdgeschosses aus und erstreckte sich bis hoch in die erste Etage. Stevie hatte keinerlei Zweifel daran, dass das hier Ellies Freunde waren. Genauso musste es in Ellies Kopf ausgesehen haben.
»Ich, äh …«
Der Typ deutete auf die Empore. Stevie legte verwirrt den Kopf schief.
»Soll ich …«
Wieder der ausgestreckte Finger.
»… da oben hin?«, fragte sie.
Er nickte.
»Ich? Soll da rauf?«
Er nickte erneut und diesmal zeigte er auf eine schmale Wendeltreppe im hinteren Bereich, dann marschierte er zur nächsten Wand und machte einen Kopfstand. Während Stevie die Treppe hochging, fiel ihr auf, dass an den Zweigen des Baums Papierschnipsel befestigt waren. Darauf standen Sachen wie »Denk dir den Himmel« und »Jetzt ist nicht die Zeit, jetzt ist die Zeit«. In der oberen Etage saß ein Mädchen auf einem Stapel Kissen und für einen kurzen Moment dachte Stevie, sie hätte Ellie vor sich. Ihr Haar war zu kleinen verfilzten Knoten gebunden, sie trug ein schlabbriges T-Shirt mit dem Aufdruck »Withnail & I« und eine ausgeblichene Micky-Maus-Leggings. Als Stevie sich ihr näherte, sah sie von ihrem Laptop auf und schob ihre Kopfhörer von den Ohren.
»Hey«, sagte Stevie. »Entschuldige.«
»Man sollte sich niemals zur Begrüßung entschuldigen«, erwiderte das Mädchen.
Da war was dran.
»Der Typ unten hat mich reingelassen. Er meinte, ich soll hochgehen. Oder eigentlich hat er nur nach oben gezeigt …«
»Paul ist gerade in einer Schweigephase«, sagte das Mädchen, als wäre damit alles erklärt.
»Oh, okay. Ich bin Stevie. Ich bin … war … eine Freundin von Ellie …«
Kaum dass die Worte aus Stevies Mund waren, sprang das Mädchen auf und schlang die Arme um sie. Sie roch süßlich-ungeduscht mit einem Hauch von Räucherstäbchen und war bemerkenswert durchtrainiert, vermutlich das Resultat täglicher intensiver Yogaeinheiten. Stevie fühlte sich wie in einen warmen, müffelnden Gartenschlauch gewickelt.
»Du bist gekommen! Du bist hier! Sie wäre ja so glücklich! Du bist hier!«
Stevie hatte keine Ahnung gehabt, wie ihr Empfang im Kunstkollektiv ausfallen würde, aber mit dem hier hätte sie nie im Leben gerechnet.
»Ich bin Bath. Kurz für Bathsheba. Setz dich, setz dich«, sagte das Mädchen und löste sich von ihr.
Bath deutete auf die Kissen auf dem Boden. Sie sahen alt und fleckig und verdächtig nach Bettwanzen aus, aber Stevie ließ sich trotzdem darauf nieder. Als sie einmal saß, fiel ihr auf, dass sich vor einer der Wände eine Reihe leerer Weinflaschen mit halb heruntergebrannten Kerzen fast von einem Ende bis zum anderen erstreckte.
»Von Ellie«, erklärte Bathsheba und hockte sich im Schneidersitz auf den Boden. »Von wem auch sonst? Französischer Wein. Französische Lyrik. Deutsches Theater. Das war mein Mädchen.«
Und im nächsten Moment brach Bath in Tränen aus. Stevie rutschte unbehaglich auf ihren Kissen hin und her und kramte eine Weile lang ausgiebig in ihrem Rucksack herum.
»So schön, dass du hier bist«, schniefte Bath, als sie sich ein wenig beruhigt hatte. »Sie mochte dich total, hat ständig von dir erzählt. Du bist die Detektivin.«
Plötzlich hatte Stevie einen Kloß im Hals. Ellie hatte ihr Interesse an Kriminalistik von Anfang an ernst genommen. Sie hatte so fest an ihren Erfolg als Detektivin geglaubt, dass es regelrecht ansteckend gewesen war und Stevie daraufhin selbst ein bisschen mehr an sich geglaubt hatte. Ellie hatte sie genauso offen und freundschaftlich empfangen wie jetzt Bathsheba. Wenn Stevie genauer darüber nachdachte, konnte es durchaus sein, dass Ellie Bathshebas Look und vielleicht auch ihr Verhalten ein kleines bisschen kopiert hatte.
»Wie ist Ellie eigentlich bei euch gelandet?«, erkundigte sich Stevie. »Gehört das alles hier nicht zur Uni?«
»Nicht direkt«, erwiderte Bath, »aber es stimmt schon, dass die meisten von uns da studieren. Der Hausbesitzer ist so eine Art Schirmherr der örtlichen Kunstszene. Das hier soll einfach eine offene Anlaufstelle für Künstler sein. Eine Woche, nachdem Ellie an der Ellingham angefangen hatte, stand sie bei uns vor der Tür. ›Ich mache Kunst. Lasst ihr mich rein?‹, hat sie gefragt. Und das haben wir natürlich getan.«
»Ich wüsste gerne …« Was für ein Anfängerfehler. Man ging nirgends hin, ohne seine Fragen parat zu haben. Aber auch als Detektivin konnte man nun mal nicht immer im Voraus ahnen, mit wem man reden würde. Dann musst du aber auch reden, ermahnte Stevie sich im Stillen. Fang einfach an, der Rest kommt schon von allein. »… mehr über Ellie. Wie sie so war und …«
»Sie war echt«, antwortete Bath. »Sie war Dada. Sie war spontan. Sie war lustig.«
»Hat sie mal was über Hayes gesagt?«, fragte Stevie weiter.
»Nee.« Bath rieb sich die Augen. »Hayes ist der Junge, der gestorben ist, richtig? So hieß er doch?«
Stevie nickte.
»Nein. Sie hat mal erwähnt, dass sie ihn gekannt hatte, aber das war’s auch schon. Und dass sie traurig war.«
»Hat sie was von einem Projekt erzählt, bei dem sie ihm geholfen hat?«
»Einem Projekt? Cabaret, oder was? Hey, kennst du eigentlich schon unsere Show?«
»Nein, ich –«
Aber Bath hatte sich bereits ihren Laptop geschnappt und ein Video geöffnet.
»Das hier musst du dir unbedingt angucken«, sagte sie. »Wird dir gefallen. Einer von Ellies besten Auftritten.«
Anstandshalber sah Stevie sich zehn Minuten unterbelichtetes, verwirrendes Filmmaterial voller schrägem Saxofongedudel, Lyrik, Handständen und Getrommel an. Ellie mischte tatsächlich dabei mit, aber eigentlich war es zu dunkel, um sie richtig auszumachen.
»Ja«, seufzte Bath, als es zu Ende war. »Ellie. Viel hab ich seit ihrem Tod nicht auf die Reihe gekriegt. Ich geb mir echt Mühe, aber meistens sitze ich einfach nur hier rum. Ich weiß, sie würde wollen, dass ich das Ganze mithilfe von Kunst verarbeite, und das hab ich auch versucht. Mache ich immer noch. Ich will sie nicht enttäuschen.«
Ich auch nicht, dachte Stevie.
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