Sobald sie sich eine Weile später verschwitzt voneinander lösten, griff Francis nach ihren Kleidern, schüttelte sie aus und zog sich an.
»Los, wir müssen gehen«, kommandierte sie.
»Ich will aber nicht.«
»Steh auf.«
Eddie stand auf. Widerwillig zwar, aber er gehorchte.
Francis, die mittlerweile wieder vollständig bekleidet war, packte die Utensilien zurück in ihre Tasche. Dann streifte sie abermals ihre Handschuhe über und faltete den Brief zusammen.
»Ich habe jemanden, der ihn für uns in die Post gibt«, sagte sie, während sie das Blatt behutsam in den Umschlag schob. »In Burlington, damit der Stempel von dort stammt.«
»Und wie erfahren wir, ob er ihn bekommen hat?«
»Ach, das wird man ihm schon anmerken, da bin ich mir sicher. So, ich muss jetzt wirklich zurück. Miss Nelson hat mich sowieso schon auf dem Kieker. Sie traut mir nicht.«
»Völlig zu Recht.«
Sie kletterten zurück ans Tageslicht. Francis sah blinzelnd auf die Uhr.
»Wir sind spät dran«, sagte sie. »Das gibt Ärger. Schnell jetzt.«
»Einmal noch«, forderte Eddie und umfasste ihre Taille. »Im Stehen am Baum, wie die Tiere.«
»Eddie …« Die Idee war verlockend, aber schließlich schob Francis ihn von sich. Er knurrte und jagte ihr spielerisch nach. Francis rannte lachend davon, ihre Tasche fest unter den Arm geklemmt. Die Luft war frisch und voller Düfte. Ihr Plan nahm immer mehr Gestalt an. Bald würden sie das alles hier hinter sich lassen und sich in ihr Abenteuer stürzen, nur Eddie und sie. Weit weg von New York, weit weg von der feinen Gesellschaft – auf der Straße Richtung Freiheit, Wildheit, Leidenschaft, garniert mit Küssen und Gewehrfeuer.
Als sie den belebteren Teil des Schulgeländes erreichten, gesellte sich Eddie zu ein paar seiner Hausgenossen, während Francis auf Minerva zuhielt. Zwar war die Gleichberechtigung hier an der Ellingham schon weiter fortgeschritten als an vielen anderen Orten, dennoch galten für die Mädchen noch immer strengere Regeln als für die Jungen. Sie mussten früher zu Hause sein, um sich auszuruhen, zu lernen und sich für das Abendessen umzuziehen.
Francis stieß die Tür auf und fand sich prompt Miss Nelson gegenüber, die kerzengerade auf dem Sofa saß, ein dickes Buch auf dem Schoß. Auch Gertie van Coevorden war da. Sie schenkte Francis kurz ihr dümmliches Lächeln und widmete sich dann wieder ihrer Filmzeitschrift, der einzigen Lektüre, auf die sie sich je einzulassen schien. Falls in Gertie van Coevordens Kopf auch nur zwei Gehirnzellen herumschwirrten, wären sie sicherlich erstaunt über die Existenz der jeweils anderen. Was man Gertie dagegen zugestehen musste, war ein untrügliches Gespür dafür, wann jemand anders Ärger bekommen würde, und so war sie stets rechtzeitig vor Ort.
»Ganz schön spät, meinst du nicht, Francis?«, begrüßte Miss Nelson sie.
»Tut mir leid, Miss Nelson«, erwiderte Francis in einem Tonfall, der verriet, dass es ihr ganz und gar nicht leidtat. Es war, als fehlten ihr schlicht die körperlichen Voraussetzungen dafür, Reue zu zeigen. »Ich war in der Bibliothek und hab nicht auf die Uhr geguckt.«
»Dann ist die Bibliothek wohl wesentlich schmutziger, als ich sie in Erinnerung habe. Du hast Laub im Haar.«
»Ich hab noch ein bisschen draußen gesessen und gelesen«, erklärte Francis und strich sich über den Kopf. »Dann mache ich mich mal fürs Abendessen fertig.«
Im Vorbeigehen wies sie Gertie mit einem einzigen Blick darauf hin, sich lieber schnell das hämische Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, falls ihr etwas an ihren glänzenden blonden Locken lag. Hastig vergrub Gertie die Nase wieder in ihrer Zeitschrift.
Als sie sicher in ihrem Zimmer angelangt war, legte Francis ihre Sachen aufs Bett. Albert Ellingham hatte die Schülerunterkünfte zwar mit allem Nötigen ausgestattet, allerdings waren die Möbel sehr schlicht gehalten, weswegen Francis’ Familie sie mit einem ganzen Lieferwagen voller Luxusgüter zur Schule geschickt hatte – Bettwäsche von Bergdorf Goodman, ein seidenbespannter Paravent, Fellteppiche, mehrere große Spiegel, eine französische Kommode, eine Vitrine aus Walnussholz für ihre Schminksachen und Badeöle, ein Bürsten- und Kammset aus Silber und ein Frisiertisch, auf dem Letztere erst richtig zur Geltung kamen. Ihre Vorhänge waren handgenäht, genauso wie der spitzenverzierte Bettvolant. Sie zog ihre Jacke aus, warf sie auf den Schaukelstuhl und betrachtete sich selbst im Spiegel. Verschwitzt, verdreckt, die Bluse verknittert und falsch zugeknöpft. Es konnte kaum offensichtlicher sein, was sie in Wahrheit getrieben hatte.
Das gefiel ihr. Sollten sie es doch alle sehen.
Dann wandte sie sich wieder den Sachen auf ihrem Bett zu und vergewisserte sich, dass die Zeitschriften sicher in der Papiertüte verstaut waren. Sie hatte vor, sie später zu verbrennen, schob sie jedoch fürs Erste unters Bett. Wichtiger war das Tagebuch. Das musste immer gut versteckt sein. Sie überflog die Ergebnisse des vergangenen Nachmittags, las sich ein letztes Mal zufrieden das Rätsel durch und schob den Umschlag zurecht, der zwischen den Seiten steckte. Aber … irgendetwas fehlte. Panisch blätterte sie vor und zurück.
»Francis!«, rief Miss Nelson.
»Komme gleich!«
Mehr hektisches Umblättern. Ihre Fotos! Die geheimen Bilder, die Eddie von ihnen geschossen hatte, auf denen er und Francis wie Bonnie und Clyde posierten. Einige mussten sich aus den Fotoecken gelöst haben und rausgefallen sein, als Eddie sie durch den Wald gejagt hatte. Dieser verdammte Hohlkopf! Genau das war der Grund, warum sie sich um alles selbst kümmern musste. Dieser Junge besaß einfach keinerlei Disziplin. Wer in Eile war, machte nur Fehler.
»Francis!«
»Ja!«, schrie sie.
Jetzt war keine Zeit. Sie schob die Kommode beiseite, kniete sich auf den Boden und löste die Fußleiste von der Wand. Hastig stopfte sie das Tagebuch in das Loch dahinter und drückte die Fußleiste wieder fest. Dann strich sie sich notdürftig Kleider und Haare glatt und stellte sich den kritischen Blicken der Welt.
Das Hauptquartier des Aktionskunstkollektivs Burlington war zu Fuß etwa zehn Minuten von dem Café in der Church Street entfernt, beziehungsweise sieben, wenn man den ganzen Weg mit einer riesigen Tüte voller Klamotten und Winterstiefel in der Hand rannte. Stevie guckte gar nicht erst auf die Uhr, denn knapp wurde die Zeit so oder so. Eigentlich war ihr selbst nicht ganz klar, was sie mit dieser Aktion bezweckte, aber sie hatte das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen, und darum galt: Je weniger Hinderungsgründe (zum Beispiel die Frage danach, ob etwas durchführbar oder unbedingt vernünftig war), desto besser.
Sie musste keine Hausnummern abgleichen, um zu wissen, dass sie richtig war. Das Kunstkollektiv lag in Fentons Wohngegend, einem Stadtteil voller viktorianischer Villen in höchst unterschiedlichen Erhaltungszuständen. Manche davon befanden sich im Besitz der Uni, andere waren zu Mehrfamilienhäusern umgebaut worden. Das Gebäude des Kunstkollektivs glich den übrigen in Größe, Form und Baustil, aber das war es auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Es war in einem tiefen, irgendwie schmuddelig wirkenden Fliederton gestrichen mit dunkellilafarbenen Strahlen, die sich vom Giebel über die gesamte Fassade erstreckten. An den Balken der abgesackten Veranda hingen gut und gern ein Dutzend Mobiles aus alten Konservendosen, Glas- und Tonscherben, rostigen Schraubenmuttern und anderen Maschinenteilen und Steinen. In einer Makramee-Blumenampel steckte ein Schaufensterpuppenkopf, der sich verträumt im Wind drehte. Ein Bein der Puppe stand in der hinteren Verandaecke und diente als Aschenbecherständer. In einer Holzkiste an der Tür lehnten eine Schneeschaufel und ein Sack Katzenstreu.
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