Eva Susso - Das Freundschaftsherz
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Eva Susso
Das Freundschaftsherz
Aus dem Schwedischen von Maike Dörries
Saga
Die heimliche Nachricht
Kaum hat Hanna die Wohnungstür geöffnet, sieht sie ihn auch schon. Den weißen Umschlag auf der Fußmatte. Schnell bückt sie sich und hebt ihn auf. Neugierig betrachtet sie die Vorderseite.
Hanna Erikson
Der Brief ist für sie!
Von wem der wohl ist?
Mit pochendem Herzen reißt sie den Umschlag auf, zieht den Brief heraus und liest mit angehaltenem Atem:
Hallo, süße Hanna!
Hier kriegst du was Süßes
von deinem heimlichen Freund.
Ein heimlicher Freund? Wer soll denn das sein?
Hanna kichert in sich hinein.
Dann liest sie die Nachricht noch einmal, Wort für Wort.
Und da entdeckt sie das rote Herz. Ein kleines feuerrotes Herz in der untersten Ecke des Zettels.
Bis jetzt hat Hanna es nur für einen Scherz gehalten. Aber es ist ein echter Liebesbrief! Der erste Liebesbrief ihres Lebens!
Mit einem Mal fühlt sich alles ganz unwirklich an. Wie in einem Traum.
Jetzt ist es also so weit, denkt sie. Jetzt werde ich erwachsen. Und das ist durch absolut nichts mehr aufzuhalten.
Am liebsten würde Hanna vor Wut toben. Aber dann würde Papa herbeigestürzt kommen und wissen wollen, was passiert ist.
Ich will nicht erwachsen werden!, rumort es in ihr. Nicht jetzt. Noch nicht. Tut mir das nicht an!
Aber dafür ist es zu spät.
Als sie die Augen zukneift, spürt sie es bereits im ganzen Körper. Ihre Arme und Beine kribbeln und glühen. Wahrscheinlich wachsen sie genau in diesem Moment. Hilfe! Gleich ist sie zwei Meter groß und stößt mit dem Kopf gegen die Decke!
Wo soll das bloß enden?
Ob sie sich sehr verändern wird?
Hanna schlägt die Augen wieder auf. Noch scheint keine Gefahr zu bestehen. Ihre Arme und Beine sind genauso dünn und voller Sommersprossen wie vorher.
Sie dreht den Umschlag auf den Kopf. Da purzelt ein Salzlakritz-Piratentaler auf den Boden. Sie hebt ihn auf, pustet ein paar Staubkörner weg und schiebt ihn in den Mund.
Der heimliche Briefeschreiber weiß also, dass sie Salzlakritze liebt. Obwohl das fast alle in der Schule wissen. Aber die meisten sind verreist. Erst vorhin hat sie sich von Fanny verabschiedet, die morgen aufs Land fährt.
Leonardo ist nicht weggefahren. Könnte es sein, dass Leonardo der heimliche Briefeschreiber ist? Aber warum sollte er einen Brief schreiben, wo er und Hanna sich doch jeden Tag sehen? Hanna schiebt den Gedanken gleich wieder beiseite.
Und schiebt den Umschlag mitsamt Zettel in die Tasche.
»Papa«, fragt sie und betritt sein Arbeitszimmer. »Ist jemand da gewesen, um was für mich abzugeben?«
Papa schaut von der Tastatur auf.
»Nein«, sagt er. »Wieso?«
»Ach, nur so«, murmelt Hanna und geht zurück in die Küche.
»Übrigens«, ruft Papa hinter ihr her. »Leonardo hat angerufen!«
Während Hanna Leonardos Nummer wählt, entscheidet sie sich ihm nichts zu sagen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Keiner soll wissen, dass sie einen heimlichen Liebesbrief bekommen hat. Nicht bevor sie herausgefunden hat, wer der Schreiber ist. Wenn es sich schon nicht vermeiden lässt, dass sie jetzt erwachsen werden muss, will sie wenigstens wissen, wem sie das zu verdanken hat. Und derjenige kriegt dann erst einmal eine ordentliche Abreibung!
Bloß nicht erwachsen werden
Hanna schmiert sich ein Käsebrot. Papa hat mal wieder vergessen sich ums Mittagessen zu kümmern. Er ist schrecklich beschäftigt mit dem Buch, das er gerade schreibt.
Sie setzt sich in den Park und wartet. Kaut auf den Nägeln und lässt heißen Sand zwischen den Zehen hindurchrieseln.
Jetzt werde ich also erwachsen, denkt sie. Als Erste. Außer ihr hat in der Klasse noch keiner einen Liebesbrief bekommen. Noch nicht einmal Fanny. Komisch, dabei ist Fanny doch viel süßer als ich, geht es ihr durch den Kopf.
Bei dem Gedanken, dass es jemanden gibt, der sie süß findet, muss Hanna kichern. Vielleicht sogar noch süßer als Fanny, vielleicht am süßesten auf der ganzen Welt.
Ohne etwas dagegen machen zu können wird Hanna plötzlich warm wie eine frisch gebackene Zimtschnecke. Und in ihrem Kopf fährt alles Karussell.
Über ihr rauscht es in den Baumkronen. Es klingt fast so, als ob sie flüstern. Süße Hanna, flüstern sie. Süße Hanna. Hanna lacht in sich hinein. Oje, ganz schön albern, das Ganze.
Sie überlegt, wie lange es her ist, dass sie mit den anderen Kindern hier herumgetobt und Blödsinn gemacht hat. Da war der Spielplatz noch ein magischer Ort voll spannender Möglichkeiten.
Als ich klein war, war das hier ein wunderbarer Ort, denkt Hanna. Damals hat Mama sich immer im Parkcafé einen Kaffee bestellt. Dort konnte man auch Räder, Sandkastenbagger und Schaufeln ausleihen. Heute sieht das alles trostlos verfallen aus. Das Parkcafé ist mit Brettern zugenagelt und das blaue Klettergerüst sieht jetzt aus wie ein altes ausgeblichenes Dinosaurierskelett.
Demnächst soll alles abgerissen werden, hat Hanna gehört. Und stattdessen soll hier ein Parkplatz entstehen.
Als ich noch ein Kind war, war alles anders, denkt sie. Und jetzt bin ich fast erwachsen. Sie streicht sich mit den Händen über den Brustkorb. Bald kriege ich auch einen Busen. Wie die Mädchen aus der Vierten. Brüste, die das T-Shirt ausbeulen. Dann glotzen die Jungs hinter einem her und grinsen blöde. O Gott, wie peinlich.
Hanna will nicht länger darüber nachdenken.
Sie hält nach Leonardo Ausschau. Immer muss sie auf ihn warten. Aber sie ist froh, dass er ihr Freund ist. Papa hat so gut wie nie Zeit und Mama arbeitet in Paris. Heute ist der 13. Juni. Schon seit zwei Monaten ist sie weg. Seit April.
Arbeit.
Das ist so was, womit die Erwachsenen sich beschäftigen.
Da kann sie gerne darauf verzichten, erwachsen zu werden.
Hanna legt die Arme um ihren Oberkörper. Sie kann sich kaum noch daran erinnern, wie Mama aussieht. Selbst wenn sie die Augen schließt und sich konzentriert, sieht sie ihr Gesicht nicht mehr deutlich vor sich. Es ist eher wie ein verschwommener Fleck mit blonden Haaren.
Na ja, bald kommt sie ja wieder nach Hause. Und wenn Papa mit seinem Buch fertig ist, fahren sie alle zusammen ans Meer und wohnen in einer Ferienhütte.
Hanna stirbt fast vor Sehnsucht.
Das Meer ist das Tollste, was sie sich vorstellen kann. Zuallererst, weil es salzig ist, und Hanna liebt alles Salzige. Außer Salzhering mit Zwiebelsoße. Das hat sie einmal bei der alten Frida gegessen.
Und dann, weil das Meer der Spiegel des Himmels ist. Darum wechselt das Meer auch immer seine Farbe, von Dunkelblau zu Hellblau, von schimmerndem Grün zu Bleigrau. Manchmal ist es sogar rot, wenn die Sonne untergeht.
Hanna liebt es, auf einem Felsen zu sitzen und bis an den Horizont zu schauen. Den Wellen zuzuhören, die heftig gegen die Steine schlagen, oder dem zufriedenen Glucksen des Wassers an einem windstillen Tag zu lauschen. Kleine Krebse in einem Eimer zu sammeln gehört fast zum Schönsten, was Hanna sich vorstellen kann. Natürlich lässt sie alle wieder frei ...
Plötzlich scheppert es hinter ihrem Rücken.
Eine Frau sammelt die leeren Pfandflaschen ein. Sie trägt zwei Strickjacken über dem Kleid und Fingerhandschuhe, trotz der brüllenden Hitze. Mit gewohnten Handgriffen wühlt sie im Abfalleimer herum, findet eine Flasche, schüttelt die letzten Tropfen heraus und stopft sie in ihre Plastiktüte. Danach wirft sie Hanna einen leeren Blick zu und schlurft weiter.
Die Ärmste. Sie hat bestimmt niemanden, der sich um sie kümmert. Wenn man erwachsen und allen Leuten egal ist, ist das ganz schön schlimm.
Hanna kaut auf den Nägeln der anderen Hand. Da hört sie einen Hund bellen und sie schaut nervös in Richtung Gröndalsvägen. Das wird doch wohl nicht Big sein, der da drüben angeschlappt kommt. Doch, er ist es. Er geht mit seinem Hund Sigge Gassi. Den hat er nach seinem verstorbenen Vater benannt.
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