Königsberg sei eine kosmopolitische Stadt und eine wichtige Universitätsstadt gewesen, die er äusserst ungern gegen das Provinziantentum anderer deutscher Städte – wie beispielsweise Berlin oder Halle – habe eintauschen wollen. Zudem sei Königsberg während seiner Erdenzeit für fünf Jahre eine russische Stadt geworden.72 Dies sei eine spannende Zeit gewesen. Die Russen seien den Königsbergern sehr gutgesinnt gewesen und Königsberg habe von der Zeit unter dem Zar sehr profitiert. Übrigens sei die Stadt Königsberg in seinem Geburtsjahr durch den Zusammenschluss der Ortschaften Altstadt, Löbenicht und Kneiphof durch König Friedrich Wilhelm gegründet worden.73 Vielleicht sei er deshalb Zeit seines Lebens der Stadt am Pregel treu geblieben. Er habe diese grosse, weite Königsberger Welt von klein auf gekannt und schätzen gelernt. Mit der organisierten Religion habe er leider in seinen Jugendjahren sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Das Kollegium, das er besuchte, sei von sehr strengen Pietisten74 geführt worden, welche sie gezwungen hätten, jeden Tag an Andachtsgottesdiensten teilzunehmen und die einem sehr wenig Freiheit beim Lernen zugestanden hätten. Er und seine Mitschüler seien von morgens bis abends, Montag bis Samstag, voll eingespannt gewesen. Obwohl er persönlich nie atheistisch gesinnt gewesen sei, habe er je länger, je mehr nichts mehr mit dem pietistischen Glauben anfangen können. Wenn man mal den Goût des philosophischen Denkens geschmeckt habe, könne man nicht mehr zurück zu den pietistischen Glaubensvorstellungen. In einem selbst gedichteten Nachruf auf den Königsberger Theologen Lilienthal habe er geschrieben: „Was auf das Leben folgt, deckt tiefe Finsternis. Was uns zu tun gebührt, des sind wir nur gewiss. Dem kann, wie Lilienthal, kein Tod die Hoffnung rauben, der glaubt, um recht zu tun, recht tut, um froh zu glauben.“75
Zudem habe er am Ende seines Lebens die kirchliche Machtpolitik in Preussen zu spüren bekommen. Dies habe ihm klar gezeigt, dass die wahre Kirche nicht die preussische Staatskirche sein könne. Deshalb habe er in einer seiner letzten Schriften in Anlehnung an die Worte Jesu in den Evangelien76 geschrieben: „Die enge Pforte und der schmale Weg, der zum Leben führt, ist der des guten Lebenswandels; die weite Pforte und der breite Weg, den viele wandeln, ist die Kirche. Nicht als ob es an ihr und an ihren Satzungen liege, dass Menschen verloren werden, sondern dass das Gehen in dieselbe und Bekenntnis ihrer Statute oder Zelebrierung ihrer Gebräuche für die Art genommen wird, durch die Gott eigentlich gedient sein will.“77
Sie wollen von ihm wissen, was denn die wahre Kirche für ihn ausmache. Er erklärt Ihnen, die wahre Kirche müsse eine Einheit sein, welche zwar unterschiedliche Meinungen zulasse, aber in Ansehung der wesentlichen Absicht auf Grundsätzen errichtet sei, welche notwendig zur allgemeinen Vereinigung in eine einzige Kirche führen. Zudem müsse sie gereinigt sein vom Blödsinn des Aberglaubens und dem Wahnsinn der Schwärmerei. Ihre einzige Triebfeder müsse das Moralische sein. Sie müsse als ein ethisches gemeines Wesen, als Repräsentantin eines Staates Gottes betrachtet werden. Sie solle weder monarchisch (unter einem Papst oder Patriarchen), noch aristokratisch (unter Bischöfen und Prälaten), noch demokratisch (als sektiererische Illuminaten) organisiert sein. „Sie würde noch am besten mit einer Hausgenossenschaft (Familie), unter einem gemeinschaftlichen, obzwar unsichtbaren, moralischen Vater verglichen werden können, sofern sein heiliger Sohn, der seinen Willen weiss, und zugleich mit allen ihren Gliedern in Blutsverwandtschaft steht, die Stelle desselben darin vertritt, dass er seinen Willen diesen näher bekannt macht, welche daher in ihm den Vater ehren, und so untereinander in eine freiwillige, allgemeine und fortdauernde Herzensvereinigung treten.“78
Sie fragen nochmals, warum er sich so auf das Moralische fixiere. Gott und Religion könnten doch mehr sein als nur Moral und guter Lebenswandel. Er würde Ihre Frage in der neuen Welt anders beantworten, sagt er. Aber zu seiner Erdenzeit sei er überzeugt gewesen, dass es eine übersinnliche Ordnung gebe und die Natur ihren verborgenen Plan umsetze, indem sich die Menschheit moralisch weiterentwickle. Der Fortschrittsglaube sei eben eine wichtige Vorstellung der Aufklärung gewesen. Und er sei davon überzeugt gewesen, dass Fortschritt nur durch die moralische Entwicklung der Menschheit erreicht werden könne. Denn solange die Menschen in einer geschichtlichen Welt lebten, würden sie danach fragen, wie sie leben sollen, um der übersinnlichen, zeitlosen, natürlichen Ordnung zu entsprechen.
In der neuen Welt habe er aber festgestellt, dass die Moral tatsächlich nicht der einzige Grund für Gott und das Leben sei. Er sei nun froh, in dieser neuen Welt zu sein, wo er alles viel klarer erkenne. Wenn er diese Klarheit schon zu Erdenzeit gehabt hätte, hätte er seine Schriften klarer und wahrer formulieren können. Dies hätte ihm in der neuen Welt eine Menge Ärger erspart. Denn die Anzahl derer, die durch seine komplizierten Schriften zu Erdenzeiten gequält wurden, sei viel zu gross.
Sie fragen ihn, ob sein grosses Interesse an der Moral durch Begegnungen mit jüdischen Freunden entstanden sei. Im Judentum seien doch die Gesetze und der Lebenswandel so zentral. Der Mann schaut Sie erstaunt an und meint, er habe zwar einige jüdische Freunde gehabt und zahlreiche jüdische Studierende unterrichtet,79 aber er habe zu seiner Erdenzeit das Judentum als „den Inbegriff bloss statuarischer Gesetze“ betrachtet und behauptet, dass das Judentum „eigentlich gar keine Religion, sondern bloss Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besonderen Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter blossen politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten.“80 Er sei der Meinung gewesen, dass die jüdischen Zwangsgesetze bloss die äussere Handlung des Menschen betroffen hätten, jedoch gar nichts mit seiner Forderung nach moralischer Gesinnung zu tun gehabt hätten. Zudem habe er bemängelt, dass die jüdische Religion keinen Glauben an ein künftiges Leben beinhalten würde und man deshalb nicht von einem eigentlichen Religionsglauben sprechen könne. Denn das Fehlen der jenseitigen Dimension des Lebens führe dazu, dass die Menschen sich nur an die Gesetze hielten, weil sie sich eine Belohnung im Diesseits erhofften, statt aus reiner moralischer Gesinnung die Gesetze zu befolgen. Deshalb habe er gefolgert, dass der christliche Kirchenglaube – abgesehen von der Geschichte – nichts mit dem jüdischen Glauben gemeinsam habe. Zu unterschiedlich seien die beiden Konzepte. Das Christentum sei „eine völlige Verlassung des Judentums“. Allerdings, ergänzt er noch, habe er auch geschrieben, dass das Judentum zur Zeit der Entstehung des Christentums nicht mehr das unvermengte, altväterliche Judentum gewesen sei, sondern „schon viel fremde (griechische) Weisheit“ enthalten habe.81
Sie sind erstaunt, wie ein so gelehrter Mann das Judentum – eine der ältesten noch zu Ihrer Erdenzeit praktizierten Religionen – als keine eigentliche Religion bezeichnen kann, noch dazu behauptet, dass das Judentum keinen moralischen Anspruch an die Lebensführung der Menschen habe. Das Argument des fehlenden Jenseits-Glaubens verblüfft Sie. Denn zu Ihrer Erdenzeit kritisierten die Aufklärer die Religionen, weil diese sich angeblich ausschliesslich für die jenseitige Dimension interessieren würden und der diesseitigen Welt zu wenig Beachtung schenken würden.
Um Ihre Vermutung zu bestätigen, wollen Sie ihn noch nach seinem Namen fragen. Doch der „König von Königsberg“82 ist schon weg. Es bleibt Ihnen keine Zeit, ihm zu sagen, dass er der Retter des Königsberger Doms gewesen sei: Denn aufgrund seiner Grabstätte, welche an der Nordseite des Doms angebracht worden war, wurde das Gotteshaus vor der Zerstörungswut der aufgeklärten sowjetischen Besatzer verschont. Im Gegensatz zum alten Königsberger Schloss und der Altstadt, welche im Krieg und danach dem Erdboden gleichgemacht wurden.
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