1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Er zuckte zusammen, als er einen Automotor brummen hörte. Schnell öffnete er die Augen. Das Geräusch, das ihn in die Wirklichkeit zurückgeholt hatte, kam von einem Taxi, das betrunkene Gäste aus dem Café einsammelte. Dann merkte er, dass ihre Stimmen nicht mehr zu hören waren. Ein Kellner war dabei, die leeren Tassen abzuräumen und ihren Tisch abzuwischen.
Er entdeckte sie, kurz bevor sie um die Ecke beim Kaufhaus Magasin in Richtung Immervad verschwanden. Er griff nach dem Kellner und bekam dessen Ärmel zu fassen, sodass der beinahe das Tablett mit Gläsern und Tassen fallen ließ. Er bezahlte seine Fassbiere und folgte ihnen schnell.
Emma war ein gutes Stück jünger als ihre verstorbene Schwester. Sabrina hatte immer viel von ihrer direkten und unvorhersehbaren Art gehalten. Sie lächelte, als Emma, schon bevor sie sich an einen freien Tisch setzten, zwei SMS entgegengenommen und beantwortet hatte – auf einem kleinen, modernen, silbernen Handy mit so winzigen Tasten, dass sie selbst sie nicht treffen würde. Aber Emmas kleine, dicke Daumen bewegten sich schnell auf ihnen, wie die eines Teenagers. »Das war mein Enkel, der mir gesimst hat«, erklärte sie mit einem müden Lächeln und tippte weiter, während sie sich setzte. Die rotgeränderten Augen zeugten davon, dass sie in den letzten Tagen viel geweint hatte.
Sabrina nickte nur. Sie kannte Emmas Familie nicht besonders gut, so oft trafen sie sich nicht. Emma wohnte ein bisschen außerhalb von Ribe und blieb nur in Aarhus, bis sie damit fertig waren, die Wohnung zu räumen. Sie wohnte während der Zeit im Hotel Cabinn neben dem Aarhuser Theater. Kaj, ihr Mann, war zu Hause geblieben. Sie hatte einen Bauernhof mit kleinen Schweinen, die versorgt werden mussten.
»Nee, das dauert hier wirklich zu lange«, rief Emma aus, sobald sie das Handy in die Tasche gelegt hatte. »Wo bleibt der Kellner bloß?«
Die beiden sahen zum Café, wo zwei Kellner im Linienverkehr zwischen den offenen Türen des Cafés und den Tischen entlang des Flusses auf und ab eilten. Es waren viele Menschen unterwegs. Die Sonne schien und wärmte wie an einem Sommertag, die meisten hatten freibekommen und genossen eine Tasse Kaffee oder ein Fassbier, bevor sie nach Hause gingen. Nur die Angestellten der Läden mussten neidisch in den Sonnenschein hinausschauen. Es dauerte noch ein paar Stunden, bis auch sie an der Reihe waren. Aus dem Haupteingang des Magasin strömten Leute hinein und heraus.
»Die haben doch viel zu tun, Emma. Haben wir denn keine Zeit zu warten?«
Emma erhob sich ungeduldig. Sie war eine kleine, kräftige Dame, verstand es aber, sich geschickt zu kleiden, sodass es nicht das Erste war, das einem auffiel. Die Sonne ließ den weißen Pagenkopf wie Silber leuchten, die kleinen Augen sahen trotzig aus. Sie klemmte ihre Tasche unter den Arm und richtete sich auf. »Nee, Sabrina. Wir haben zu tun. Wenn wir mehrere Stunden warten müssen, um eine einfache Tasse Kaffee serviert zu bekommen, schaffen wir heute nichts mehr.« Sie verschwand mit schnellen, kleinen Schritten im Gedränge des Cafés, die Tasche unter den Arm gepresst, als ob sie fürchtete, jemand würde sie ihr hier in der Großstadt stehlen. Sabrina lächelte wieder. Drinnen würde sie ganz sicher auch warten müssen.
Sie lehnte sich in dem nicht besonders bequemen Caféstuhl zurück, dessen Rückenlehne an der Wirbelsäule scheuerte, und betrachtete die Passanten. Zog man die Jahreszeit in Betracht, waren die Leute sehr dünn angezogen. Sie genoss den Duft aus dem Café. Eine wohlriechende Tasse Espresso oder Cappuccino nach der anderen wurde an ihr vorbeigetragen. Die Atmosphäre ließ sie an Italien und Peter denken. Jetzt, da sie von ihm weg war, vermisste sie ihn. Aber war es nicht oft so, dass man von jemandem wegmusste, um zu erkennen, dass man ihn nicht entbehren wollte? Vielleicht fühlte er das Gleiche, oder was machte er allein in Mailand? Heute Abend hätten sie mit seinen Kollegen von Grundfos gemeinsam gegessen. Das war das Erste, worüber er sich beklagte, als sie zur Beerdigung nach Hause nach Dänemark wollte. Eine Feier war für ihn wichtiger als ein Todesfall in der Familie. Oder besser gesagt, seine Karriere war wichtiger. Sie sah ein umschlungenes Paar vorbeigehen und starrte ihnen neidisch nach. Es war lange her, dass sie und Peter so herumgelaufen waren. Sie fühlte sich allmählich wie eine Selbstverständlichkeit an seiner Seite, wenn es ihm gerade passte. Wenn nicht, konnte sie allein durch Mailands Straßen laufen und exklusive Schaufenster mit Modemarken ansehen, die sie sich nie würde leisten können. Im Laufe der letzten Monate hatte sie es einfach bereut, mit ihm gegangen zu sein. Und jetzt saß sie hier und vermisste ihn schon nach zwei Tagen. Wie hätte sie ein ganzes Jahr ohne ihn auskommen sollen? Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, den die Sonne wärmte.
Und dann war da das, was sie ihm nicht erzählt hatte. Peter hatte immer sehr vehement darauf bestanden, dass keine Kinder kommen sollten, bevor er nicht als Produktionsingenieur ausgebildet wäre und das Gehalt bekäme, das er verdiente. Er erwartete, dass sie die Pille nahm, aber an dem Abend hatte sie es vergessen. Warum war es bei ihr auch gleich so leicht gewesen, wenn so viele andere keine Kinder bekommen konnten? Die Einzige, mit der sie über so etwas hätte reden können, wäre – Oma.
Überraschend schnell kam Emma zum Tisch zurück mit einem Tablett, auf dem eine kleine Tasse Kaffee und eine große Tasse Cappuccino standen. Auf den Untertassen lagen kleine, verpackte Schokoladenstückchen. Sabrina stand sofort auf, um mit dem Tablett zu helfen. »Das ging schnell! Was hast du mit der Schlange da drinnen gemacht?«, fragte sie beeindruckt.
Emma lächelte geheimnisvoll, streckte ihre Ellbogen raus und stieß damit. Sabrina lachte und setzte sich. Es war fast so, als ob sie wieder mit Oma zusammen wäre. Sie hatte sie auch immer zum Lachen gebracht.
»Gut, du hast dich erinnert, dass ich Cappuccino wollte«, meinte sie.
»Du begnügst dich mit gewöhnlichem Kaffee, wie ich sehe.«
Emma schielte böse auf Sabrinas große Tasse mit weißem Schaum und Schokoladenstreuseln. »Ja, danke. Ich darf keine fette Schlagsahne in meinem Kaffee zu mir nehmen.« Sie rümpfte die Nase und konzentrierte sich auf ihre Tasse.
»Das ist keine Schlagsahne, Emma. Das ist aufgeschäumte Milch. Und es würde mich nicht wundern, wenn es sogar fettarme Milch wäre. In Italien wirkt die Milch fetter, ohne dass sie es unbedingt ist.«
»Gewöhnst du dich langsam an dein neues Land?«, fragte Emma neugierig und sah sie mit zusammengekniffenen Augen gegen die Sonne an, die gerade auf ihren Tisch schien.
»Ich komm ja wieder nach Hause, deswegen würde ich es nicht gerade mein neues Land nennen. Um ganz ehrlich zu sein, kann ich Mailand nicht leiden. Aber an einem Wochenende sind wir nach Süditalien gefahren und haben Positano besucht. Das war schön. Fast keine Autos. Das Meer und die südländische Atmosphäre. Fast wurde unter den Balkonen abends Mandoline gespielt.« Sie lächelte abwesend. Peter hatte nicht so gestresst gewirkt und eine romantische Seite von sich gezeigt, die sie nur selten sah. Sie war davon überzeugt, dass ihr Kind dort gezeugt worden war.
Schweigend saßen sie da, während sie die Schokolade auspackte und Emma Zucker in den Kaffee rührte. Die Freilegung des Flusses war längst fertig. Das große Projekt war abgeschlossen, und die allermeisten Aarhuser fanden, dass sich all die Umleitungen und Bauarbeiten gelohnt hatten.
Emma starrte auf das Wasser des Flusses. Es war nicht schwer zu erraten, an wen sie dachte.
»Ich vermisse sie auch sehr«, sagte Sabrina und probierte den Cappuccino. Er schmeckte längst nicht so gut wie der, den sie in der Bar del Corso am Corso Vittorio Emanuele genoss, aber das lag nicht nur an den Kaffeebohnen. In Italien schmeckte alles an einem Cappuccino anders. Das Wasser, die Milch, der Zucker.
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