1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 »Geht es um etwas Neues, Mrs Coates? Sie müssen hier nicht alles ausbreiten, aber sagen Sie einfach, ob Sie über etwas Akutes oder über eine chronische Sache sprechen wollen.«
Angella sah wütend aus.
»Neu ist es nicht, Frau Doktor, es ist …«
»Könnten Sie um zehn nach eins wiederkommen? Dann schiebe ich Sie dazwischen.«
Die Sprechzeit war um halb eins zu Ende, wurde aber in aller Regel um zwanzig oder dreißig Minuten überschritten.
»Tut mir leid, wenn ich Sie bitten muss, noch einmal zu kommen, nur habe ich heute Morgen wirklich keine Lücke mehr.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Doktor, sehr nett. Kein Problem, ich kann noch einmal kommen. Danke. Ich verstehe ja, wie schwer es ist, das verstehe ich.«
»Das weiß ich doch. Dann bis später.«
An der Rezeption wurde es langsam voller, die Telefone klingelten, Angella warf Cat einen gehässigen Blick zu. Auch das verstehe ich, dachte Cat. Nur zu gut. Aber Regeln sind dazu da, gebrochen zu werden. Sie würde sich nicht zu einer Entschuldigung zwingen lassen.
Sie loggte sich ein, als sich die ersten Schritte auf dem Flur ihrem Sprechzimmer näherten. Menschen wie Mrs Coates, die freundliche Behandlung brauchten, gab es noch genug. Wie oft hatte sie bei Praxisbesprechungen gesagt, das System sollte ihnen dienen, aber sie liefen andauernd Gefahr, sich von ihm beherrschen zu lassen.
An s.serrailler@police.gov.uk
Von chief.bright@police.gov.uk
Guten Morgen, Simon. Hoffe, alles ist in Ordnung auf Taransay. Ruh dich aus. Du brauchst es. Aber ich hoffe, der Polizist in dir sitzt noch immer in den Startlöchern, wenn du wieder zu Atem gekommen bist. Wir werden etwas finden, womit wir dich langsam wieder eingewöhnen.
Hier läuft alles rund.
Kieron
An s.serrailler@police.gov.uk
Von sam101notout@gmail.com
Hi, Si, noch immer im Newkybroon Land. Montag wieder zurück, und frag nicht, was dann. Muss planen, muss mich entscheiden. Will reden. Wann bist du zu Hause? Letztes Spiel Samstag. Vermute, das wär’s dann jetzt für dich, krickettechnisch gesehen. Krass. Mum klingt quietschfidel. Flixer auch. Hatte ich nicht auch noch eine Schwester?
Liebe Grüße von Sam
An s.serrailler@police.gov.uk
Von cat.deerbon@lafferton.nhs.uk
Si, liebster Bruder, wie geht’s? Hier umwerfend, 26 Grad heute, Sonne ohne Ende, und Felix beklagt sich, dass er seinen Blazer anziehen muss. Kieron fährt ihn noch immer zur Schule, aber so kann es nicht weitergehen, oder? Wie steht’s mit dem Arm? Gibt’s was Neues vom endgültigen? Ich weiß, ich soll ihn nicht erwähnen, doch du wirst dich damit abfinden müssen – hast du was von Dad gehört? Ich bin mir ziemlich sicher, die Antwort wird Nein lauten, und für gewöhnlich lässt er mir alle paar Wochen ein paar knappe Worte zukommen, aber er hat sich seit Mitte Juli nicht gemeldet. Judith kommt nächste Woche für ein paar Tage vorbei, und es wird toll sein, sie zu sehen, aber das Thema Dad wird der Elefant im Raum sein, wie immer, und das ist nicht leicht.
Hannahs Schule probt das Musical Guys and Dolls – sie schickt aufgeregte SMS, sehnt sich nach einer guten Rolle. Achtung: – wir müssen alle hin.
Sam sollte demnächst zurückkommen, weiß aber nicht wann. Er ist ziemlich unbeständig. Mit K. hat er anscheinend kein Problem. Sie kommen gut miteinander klar. Weiß der Himmel, was er dieses Jahr vorhat. Seine Abschlussnoten waren gut, aber offenbar überdenkt er gerade seine Berufswahl. Keine Ahnung, wie die ausfällt. Darüber können wir grade nicht reden. Ein oder zwei Mal hat er sogar ein Medizinstudium erwähnt. Bisher war es die ganze Zeit Polizei – obendrein auch noch bewaffnete Sondereinheiten. Und für Medizin hat er sich nie begeistert, und das muss man.
Ich habe immer gehofft, einer von den dreien würde die Familientradition fortsetzen und Mediziner werden, doch das möchte ich jetzt niemandem wünschen, es sei denn, sie sind wie besessen davon, und dann sollte es ein seltener Fachbereich sein. Neurologie wäre gut. Gesichtsrekonstruktion bei Kriegsopfern, auch gut. Pädiatrische Onkologie, okay. Allgemeinmedizin – lieber nicht.
Alles Liebe. Und ruf mal zu Hause an.
C
Simon saß am Ende des Kais in der Sonne, die laut Wetterbericht gegen Abend Regen, Sturm und hohem Wellengang weichen sollte. Es war nicht immer leicht zu sagen, wie lange das schlechte Wetter anhielt, aber wenn es nachließ, bestand die Möglichkeit, dass die spätsommerliche Sonne nicht zurückkam, schon gar nicht mit der Wärme, die sie heute noch ausstrahlte. Die Fähre sollte bald mit einer Ladung Vorräte und Post anlanden, und er wollte beim Entladen helfen. Er konnte relativ große Kartons und Kisten tragen, nur nicht die schwersten. Nicht mit dem Arm. Nicht so, wie er es früher problemlos geschafft hatte. Er hatte sich nie besonderer Muskelstärke gerühmt, obwohl er immer Sport getrieben hatte und fit war. Nach der Physiotherapie in der Reha war er wahrscheinlich so fit wie noch nie, aber man hatte ihn davor gewarnt, die Prothese übermäßig zu belasten und zu schwere Sachen zu heben oder zu tragen. Später, wenn er den neuen, endgültigen Arm hatte. Später. An dieses Wort hatte er sich inzwischen gewöhnt. Später. Doch die Physiotherapeuten waren sehr positiv eingestellt gewesen. Nein. Niemals. Geht nicht. Diese Wörter existierten in ihrem Vokabular nicht.
Er steckte sein iPhone in die Tasche. In den E-Mails hatte nichts Beunruhigendes gestanden. Sam würde sein Ziel erreichen – wie immer es aussehen mochte. Cat schien überglücklich zu sein. Aus persönlicher Sicht hatte Simon nie Einwände gegen ihre Ehe mit dem Chief gehabt. Da er noch krankgeschrieben war, hatte sich bisher beruflich noch kein Konflikt daraus ergeben, dass sein Boss gleichzeitig sein Schwager war. Das würde vielleicht auch nie vorkommen – nicht nur, weil sie sich große Mühe geben würden, einander entgegenzukommen, sondern weil er Zweifel hinsichtlich seines Wiedereinstiegs in die Arbeitswelt hegte. Was für ein Polizist konnte er noch sein? Man hatte ihm versichert, dass der Arm sich »weder auf persönlicher noch auf beruflicher Ebene in irgendeiner Weise« auswirken würde. Stimmte das?
Cats Bemerkung über ihren Vater ließ er an sich abprallen. Seit Richard Serrailler wegen Vergewaltigung angeklagt worden und es ihm gelungen war, einen ausreichend cleveren Verteidiger zu finden, der die Staatsanwaltschaft überzeugen konnte, das Verfahren einzustellen, hatte Simon sich jeglichen Gedanken an ihn aus dem Kopf geschlagen. Ihre Beziehung war immer schwierig gewesen, aber abgesehen davon hatte er nicht den leisesten Zweifel, dass der Staatsanwalt einen Fehler begangen hatte.
Er blickte aufs Meer hinaus und sah, dass die Fähre gerade in den Hafen einbog. Ein paar Leute sammelten sich dort unten, noch mehr würden erscheinen. Pub und Laden würden jetzt allmählich Vorräte für den bevorstehenden Winter anlegen und alle Lagerräume füllen, die ihnen zur Verfügung standen. Sie leerten sich teilweise in der Sommersaison, wenn die Fähren häufiger kamen. Simon sprang auf.
Die Insulaner wussten alle über seinen Unfall und den Verlust des linken Arms Bescheid, und es hatte viel freundlichen Zuspruch oder Einladungen auf einen Drink gegeben, aber ansonsten war kein großes Aufheben gemacht worden, wofür er dankbar war. Jetzt wartete er, während die Fähre vorsichtig andockte und das Tau von Bord geworfen wurde. Nur wenige Minuten vergingen, bis die ersten Kartons und Kisten entladen wurden. Simon und zwei andere luden kleinere Kartons mit Lebensmitteln auf Sackkarren, die sie dann zum Lager hinter dem Laden schoben.
»Kerzen.« Das war die Stimme der Frau, die auf der anderen Seite der Insel am Strand entlanggegangen war. Sie war groß, und ihr blondes Haar war am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. »Sind Sie gestern angekommen?«, fragte sie.
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