1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Zum Glück war beschlossen worden, dem sonntäglichen Gottesdienst fernzubleiben, es regnete einfach zu viel, und der Vater war nicht in der Verfassung, das Haus verlassen zu können. Nur wegen des Kirchgangs wollte niemand bis auf die Haut nass werden, ohnehin würde es dafür ja später noch unzählige Gelegenheiten geben. Dagegen hatte Halfdan nichts einzuwenden, am letzten Sonntag war die Predigt unerträglich lang gewesen, kaum hatte er die Beine ruhig halten können, was zur Folge hatte, dass Dorthe ihn nach einer Weile mit ihrem strengen Blick bedachte. Der einzige Lichtblick war die Orgelmusik.
Stattdessen hat er heute die meiste Zeit des Tages am Klavier verbracht, und außerdem wollte Hjalmar Revanche für das Dominospiel. Gestern hat Halfdan ihn zum ersten Mal gewinnen lassen, danach aber drei Mal selbst gewonnen. Heute war das Spiel fast ausgeglichen. Es war eine angenehme Art des Zeitvertreibs. Als er wach wurde, war er nervös, doch als er im roten Zimmer mit Hjalmar auf dem Sofa saß und den Regen gegen das Fenster prasseln hörte, hatte er sich entspannt und das Konzert vergessen.
Jetzt allerdings spürt er die Aufregung im ganzen Körper. In einer knappen Stunde soll er auftreten. Seine eigene Komposition vorführen. Das belastet ihn sehr, er fürchtet sich vor einer Blamage. Da hilft es auch nicht, dass er das Publikum kennt, das macht es fast schlimmer. Er weiß nur zu gut, dass sie kritisch sind. Jemand aus Bogstad wird erwartet. Und der Onkel und die Tante vom Munkedamm, samt Freunden vom Theater. Ein paar von ihnen sind durchaus fähige Musiker.
Seine Mutter wird singen, sie soll das Hauskonzert einleiten, so etwas liebt sie schließlich. Vielleicht wird ihre Freude ja auf ihn abfärben, so etwas hat er schon früher erlebt, er muss nur seinen Teil dazu beitragen. Komme, was da wolle.
Er steht vor dem Spiegel an der Kommode und fährt sich mit dem Kamm durchs Haar. In der Frühe hat er unter dem Zierrat seiner Mutter eine Dose mit Puder entdeckt, hat ein wenig davon genommen und es unbemerkt in seinem Taschentuch verborgen. Jetzt versucht er, ein paar der roten Pickel damit zu verdecken, aber die Mühe hätte er sich sparen können, es sieht aus, als hätte er Mehl im Gesicht. Hoffnungslos. Er wischt sich das Gesicht ab, eine feine weiße Staubwolke legt sich auf die Brustpartie seiner Brokatweste. Nun denn, die Kleider sitzen immerhin wie sie sollen, das Halstuch sieht hübsch aus, und die Schuhe sind poliert.
Dann hört er Schritte im Flur. Die Mutter. Hektische, vertraute Schritte. Sicher freut sie sich darüber, dass er schon vorbereitet ist. Nur keine Trödelei. Die Noten liegen unten bereit, er hat es noch einmal überprüft, bevor er hinaufgelaufen ist, um sich umzuziehen. Er dreht sich um und wartet darauf, dass die Türklinke heruntergedrückt wird, aber nichts geschieht. Er öffnet die Tür, sieht hinaus und erspäht ihren Rücken im Flur, das rote Seidenkleid und das zu einem hohen Knoten aufgesteckte Haar, das den Blick auf die langen, tropfenförmigen Ohrringe freigibt. Das Rascheln des Kleiderstoffs gleicht einem bedrohlichen Zischeln, als sie weiter in den Ostflügel stürmt. Ihre Zimmertür fällt krachend ins Schloss.
Es ist nicht das erste Mal. Die Mutter reagiert mitunter heftig, und oftmals kann er den Zusammenhang nicht begreifen. Abwartend bleibt er stehen und lauscht. Unten im Salon ertönt schon Stimmengewirr. Gläser und Zigarren werden herumgereicht, während alle auf die Gastgeberin warten, Lassons älteste Tochter, die wohl sicher nur nach oben gegangen ist, um ihren Sohn zu holen. Sie warten auf ihn, auf das junge Musiktalent, auf Halfdan Kjerulf, der hier fertig angezogen, gestriegelt und gekämmt vor dem Spiegel steht, aber nicht weiß, was er nun anfangen soll. Geplant war doch, dass er mit ihr zusammen herunterkommen sollte, wenn alles soweit wäre.
Stampfende Schritte auf der Treppe. Es sind der Großvater und Tante Kaja, wo um Himmels willen Elisabeth denn jetzt sei? Herrgott.
Halfdan stottert bloß, weiß nicht, was er sagen soll. Am liebsten würde er verschwinden. Der Großvater blickt ernst, sein Mund ist verkniffen. Seine Arme hängen an den Seiten herab, die behaarten Hände ballen sich, sodass die Knöchel weiß aufleuchten. Tante Kaja blickt hinter seiner Schulter hervor, schnalzt resigniert mit der Zunge und verdreht die Augen.
Halfdan bleibt vor dem Bett stehen, hört schnelle Schritte durch den Flur eilen, der Großvater will die Tür zum Zimmer der Mutter öffnen, aber sie ist von innen abgeschlossen und niemand antwortet. Den Worten kann Halfdan entnehmen, dass es irgendeine Meinungsverschiedenheit gegeben hat. Bevor sie wieder hinuntergehen, versucht der Großvater ein paar versöhnliche Worte zu formulieren, ohne sie dabei wie eine Entschuldigung klingen zu lassen, darin ist er Meister, stets achtet er darauf, nicht das Gesicht zu verlieren.
Erst dann entdeckt Halfdan seinen Bruder. Ganz leise ist Hjalmar plötzlich aufgetaucht, wie aus dem Nichts. Jetzt steht er in der Türöffnung und blickt ihn erwartungsvoll an. Er hat sich wohl gefragt, wo der große Bruder nur bleibt.
»Kommst du nicht, Halfdan?«, fragt er und sieht ihn an.
Halfdan zögert. Dann kommt Hjalmar schließlich einen Schritt auf ihn zu und boxt ihm mit seiner kleinen Faust gegen die Schulter. Die brüderliche Freundschaftsgeste, behutsam und ungefährlich, sie sagt alles.
Ja, wieso steht er hier eigentlich und trödelt herum? Er folgt Hjalmar die Treppe hinunter in das Gewirr aus Stimmen, Gelächter und klirrenden Gläsern, derweil der Großvater im Gartenzimmer die Stimme erhebt.
»Liebe Freunde, meine Damen und Herren.«
Der Großvater heißt alle zum Hauskonzert der Familie Lasson willkommen, welch eine Freude, dass so viele dem Wetter getrotzt und sich auf den Weg hinaus nach Grini gemacht haben. Und er könne garantieren, dass sie eine unvergessliche Vorstellung erwarte, es gäbe Einiges, worauf die Gäste sich freuen dürften.
Halfdan stellt sich an die Wand, verbirgt sich halbwegs hinter dem großen Piedestal mit der palmenartigen Pflanze. Hjalmar steht neben ihm, an die gelb gestreifte Tapete gelehnt. Das Herz klopft, es fühlt sich an, als wollte es gleich zerspringen, Halfdan schlottern die Knie. Er sieht zu Hjalmar hinüber, der strahlt und sich freut. Hjalmar glaubt an ihn, hält ihn für den Besten von allen.
Er wirft einen Blick auf die Versammlung, entdeckt bekannte und unbekannte Gesichter. Onkel Peder nickt ihm feierlich zu, doch deswegen fühlt er sich auch nicht besser.
Die Mutter ist nicht wieder erschienen. Aber der Großvater nimmt alles in die Hand. Mit einem breiten Lächeln kann er alle beruhigen, seine Älteste, Elisabeth, wurde von einem plötzlichen Unwohlsein befallen, nichts Ernstes, sie braucht nur ein wenig Ruhe. Und ausdrücklich habe sie darum gebeten, das Hauskonzert beginnen zu lassen.
Tante Kaja und Tante Otilie vom Munkedamm beginnen mit einer Arie aus »Die Puppe, die auch was mitbringt« und ernten stürmischen Applaus.
Dann ist er an der Reihe. Auf geradezu mysteriöse Art gelingt es ihm, jedwede Nervosität abzuwerfen. Mit dem Rücken zum Publikum präsentiert er seine neuen Kompositionen für Klavier. Als säße er allein zu Haus und übte, nur mit Hjalmar als Zuschauer. Als gäbe es sonst nicht anderes. Nur ihn und die Musik. Keinerlei Zögern.
Erst als der letzte Ton verklingt, wird ihm bewusst, dass er ihnen fast den Atem geraubt hat, so begeistert ist das Publikum über seine Leistung. Die Gesellschaft erhebt sich applaudierend. Er schiebt den Klavierhocker zurück, stellt sich davor, die Erleichterung durchströmt jede Pore. Er hört Onkel Peder »Bravo!« rufen. Der Großvater nickt anerkennend und sonnt sich unverhohlen im Glanz der Vorstellung.
Halfdan tritt einen Schritt vor und verbeugt sich tief.
Und da ist Hjalmar. Niemand ist jetzt glücklicher als er. Der stolze Gesichtsausdruck, die leuchtenden Augen. Halfdan sieht seinen jüngeren Bruder an und verspürt ein tiefes Gefühl der Zärtlichkeit für ihn, er weiß nur zu gut, dass er hier nicht stehen würde, wenn es Hjalmar nicht gäbe.
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