Am Ende des Korridors fährt er zusammen. Ein plötzlicher Luftzug hat anscheinend die Tür zum Dachboden zufallen lassen. Dort oben müssen sie sein, obwohl ihnen streng untersagt wurde, dort jemals zu spielen. Der sicherste Weg, um sich Ärger einzuhandeln. In regelmäßigen Abständen erinnert sie der Großvater daran, und da es keinen Mangel an Orten gibt, wo man sich austoben kann, hat keiner von ihnen den Drang verspürt, dem Verbot zu trotzen. Bis jetzt. Die Tür ist angelehnt, mit einem Mal wird er von Neugier übermannt. Es ist sicher kein Vergehen, solange sie vorsichtig sind. Und offensichtlich bekommen die Erwachsenen nichts mit.
Die Treppe ist eng, fast wie eine Leiter, grau und verschmutzt. Oben angekommen, muss er sich ducken, um nicht mit dem Kopf an einen niedrigen Balken zu stoßen.
Sobald er die groben Dielenbretter betritt, hört er jemanden kichern. Irgendjemand sagt pst. Aber er kann den Ursprung der Laute nicht genau orten, der Regen prasselt allzu heftig auf das Dach gleich über ihm. Durch eine kleine Scheibe dringt Licht ein, aber die Wolfspelze, die hier den Sommer über hängen, werfen lange Schatten in das unübersichtliche Halbdunkel. Als er an einem von ihnen vorbeikommt, muss er niesen von all dem Staub.
Hört er da nicht jemanden flüstern? Es ist ganz in der Nähe, jemand atmet. Die Augen gewöhnen sich an das Dunkel, dann sieht er vier gespannte Gesichter hinter einem Schrank, alle sind am selben Ort.
Regnald kommt freudig hervorgesprungen.
»Hab ich’s nicht gesagt, ich wusste, dass er uns nicht so leicht finden würde«, ruft er und dreht sich zu den anderen.
Hjalmar, Axel und Ida kommen ebenfalls hervorgekrochen.
Ida streicht sich das Kleid glatt und kichert. Aus einem großen Korb nimmt sie einen altmodischen, samtenen Damenhut, schüttelt ihn durch, sodass eine Staubwolke aufwirbelt, setzt ihn auf und stellt sich vor den Spiegel.
»Bin ich nicht schön?«, sagt sie lächelnd und posiert übertrieben.
»Ja, aber es ist wohl besser, wenn wir wieder runter gehen. Wir dürfen hier oben nicht sein«, sagt Halfdan.
»Merkt doch sowieso keiner«, kommt es von Regnald.
Halfdan und Hjalmar bilden die Nachhut, sie schlängeln sich an Möbeln, Kisten und Körben vorbei, die anderen sind schon fast wieder unten.
Hjalmar geht voran, plötzlich hat er es eilig und läuft zur Treppe vor.
»Komm schon, Halfdan, beeil dich!«, ruft er mit ängstlicher Stimme.
Im selben Moment hört Halfdan ein klägliches Piepsen aus der dunkelsten Ecke. Er muss nachsehen, kriecht auf allen Vieren auf eine kleine Öffnung im Gebälk zu.
Hjalmar bleibt stehen. Durch das Dachfenster fällt Licht auf ihn.
»Lass uns runtergehen«, drängelt er.
»Warte. Hier ist ein Schwalbennest, Hjalmar. Mit Jungen!«
Vier graue, flauschige Federknäuel piepen hungrig und warten auf Fütterung, anscheinend völlig unberührt von der Anwesenheit der Zuschauer. Halfdan bleibt einen Augenblick sitzen, beobachtet sie und bemerkt zunächst gar nicht, dass Hjalmar schon die Stufen hinabsteigt.
Wie ein Donner ertönt plötzlich die Stimme des Großvaters. Halfdan weiß gar nicht, ob er zuerst sie oder zuerst die stapfenden Schritte hört. Jetzt steht der Großvater an der Treppe zum Dachboden und brüllt hinauf. Er muss die geöffnete Tür entdeckt haben.
In der dunklen Ecke mit dem Schwalbennest hockend, glaubt Halfdan ein Wimmern zu hören, bildet sich ein, dass Hjalmar dort zitternd auf den schmalen Stufen steht. Aber vielleicht war es nur eines der Vogelkinder, das ihn aus dem weichen Nest heraus anblickte. Wie versteinert sitzt er da, außerstande sich zu rühren, hält den Atem an und lauscht.
»Hjalmar Kjerulf. Was hast du hier zu suchen?«
Oben auf dem Dachboden schließt Halfdan die Augen, bereitet sich auf das Kommende vor, was immer es auch sein möge. Höchstwahrscheinlich ein Klatschen, wenn die Hand des Großvaters die sonnengebräunte Jungenwange trifft, spontan, denn der Anblick der ängstlichen Augen könnte ihn zögern lassen, könnte Nachgiebigkeit hervorrufen, wo doch eine feste Hand gebraucht wird. Kein harter Schlag, doch kräftig genug, damit er sich nicht noch einmal wiederholen muss. Haltet euch fern vom Dachboden.
»Bist du allein?«
Halfdan hört keine Antwort und vermutet, dass Hjalmar nickt, denn als der Großvater fragt, wo die anderen sind, bringt Hjalmar stammelnd hervor, sie seien unten. Niemand sonst ist hier gewesen, er wiederholt es, er hätte bloß so einen Einfall gehabt. Es täte ihm furchtbar leid.
Das darauf folgende Schweigen lässt Halfdan erschaudern, er kann hier nicht länger hocken. Er muss Hjalmar retten. So schnell er kann, kriecht er auf die Treppe zu, bleibt an einem Kleiderständer hängen, der krachend umstürzt, dann steht er auf der obersten Stufe und erwidert Hjalmars unglücklichen Blick. Der Großvater starrt ihn ungläubig an.
Halfdan setzt zu einer Erklärung an. Es war nicht allein Hjalmar, Großvater, es war nicht einmal seine Idee. Während er weiterredet, erscheint ein müder Ausdruck in den Zügen des Großvaters, und Halfdan erahnt einen Hoffnungsschimmer, vielleicht kommen sie ja dieses Mal noch mit einer Ermahnung davon.
Doch dann steht plötzlich der Vater da, er muss durch den Lärm gestört worden sein. Er hustet, schnäuzt sich die Nase und will ganz genau wissen, was vorgeht. Er baut sich vor ihnen auf, und obwohl er nicht in bester Form ist, strahlt er eine Aura militärischer Härte aus. Erst jetzt bekommt Hjalmar wirklich Probleme, denn der Vater bezeichnet ihn als charakterlosen Lügner und fordert ihn auf, möglichst schnell zu verschwinden, bevor er ihm die Ohren abreißt.
Hjalmar zieht den Kopf ein und sucht das Weite. Anscheinend weint er nicht, noch nicht. Halfdan hört den Vater brummen, dass er überhaupt nicht wisse, wie er einen Mann aus dem Lausejungen machen soll.
Halfdan rennt über den nassen Rasen und spürt die Feuchtigkeit in seine Schuhe dringen. Es hat aufgehört zu regnen, der Himmel ist heller. Er folgt dem kiesbedeckten Weg, es knirscht unter seinen Füßen, einer von Großvaters Jagdhunden bellt, als Halfdan am Hundezwinger vorbeieilt, bevor er schließlich die Jasminhecke umrundet, die in voller Blüte steht und einen intensiven, betörenden Duft verströmt.
Im Küchengarten hat der Regen Pfützen zwischen den Keimlingen hinterlassen. Kleine Schilder mit Pfanzennamen verraten, was in den schnurgeraden Reihen gesät wurde. Ringelblumen, Mohrrüben, Salat und Porree haben schon ausgetrieben. Die Kräuter sind bereits grün und kräftig. Er kennt all ihre Namen, Jahr für Jahr wachsen sie an derselben Stelle, Goldmelisse, Salbei, Liebstöckel und Thymian.
Er entdeckt ihn sofort, er sitzt auf der weiß gestrichenen Bank mit zur Brust herangezogenen Knien, das Gesicht verborgen. Es ist ihr geheimer Treffpunkt. Hjalmar blickt nicht auf, als Halfdan sich nähert.
Auf der Bank ist es feucht. Halfdan fegt die Tropfen mit den Händen herunter und setzt sich ebenfalls.
»Dummkopf. Warum hast du nicht gesagt, wie es war?«
Hjalmars Hose ist durchnässt. Er schnieft, zuckt mit den Schultern und sieht klein und zerbrechlich aus.
»Komm jetzt. Du musst hier doch nicht sitzen und frieren.«
Halfdan boxt ihm gegen die Schulter, ganz leicht, nur um ihn aufzuheitern. Und als auch das nicht hilft, steckt er die Hand in die Hosentasche. Er hat zwei Kampferdrops aufgespart. Die Papiertüte ist zerknittert, und die Bonbons haben sich am spitzen Ende festgesetzt. Eins für Hjalmar, eins für ihn selbst. Als Hjalmar sich endlich zu ihm umdreht und er ihm ein Bonbon reicht, da lächelt er und wischt sich mit dem Hemdsärmel über die Wangen.
Sonntag. Die Gäste treffen ein. Durch das geöffnete Schlafzimmerfenster hört Halfdan draußen auf dem Vorplatz Wagenräder und Pferde, Tante Kaias perlendes Lachen und andere fröhliche Stimmen und den Großvater, der die Gäste enthusiastisch willkommen heißt. Alle sind verspätet. Es hätte eine Matinee werden sollen, aber die Wege von Christiania hierher sind durch den Regen ganz aufgeweicht. Jetzt ist der Nachmittag schon weit fortgeschritten, und noch immer sind nicht alle eingetroffen.
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