Doch niemand sieht sie. Lassons Enkel. Feine Leute aus Grini, die ungefragt hier herumschleichen, das schickt sich nicht. Da gilt es fortzukommen. Ein Hofhund bellt, doch sie laufen einfach weiter, klettern über die Mauer auf den Weg und gehen weiter durch den Wald auf den Fluss zu.
Ja, hier kennt er sich aus. Dort glitzert der Fluss zwischen den Bäumen. Das Wasser steht höher als gewöhnlich, es war ein regenreicher Frühsommer. Sie finden die Stelle, wo der Fluss am schmalsten ist.
»Wir müssen hinüberwaten.«
Hjalmar schaut zweifelnd umher.
»Nun komm schon! Nimm die Angel und den Rucksack, dann kannst du auf meinem Rücken sitzen.«
Halfdan krempelt sich die Hosenbeine auf, beugt sich hinunter und spürt Hjalmars Gewicht, als er die dünnen Jungenbeine umfasst. Besser ist es wohl, dass nur er nass wird, dass er es ist, der den Ärger über sich ergehen lässt, wenn sie heimkommen. Irgendeine Erklärung wird ihm schon einfallen. Dann stapft er ins Wasser, eiskalt fühlt es sich auf der sonnengewärmten Haut an. Um ihn herum gluckst es, vorsichtig bewegt er sich weiter, bahnt sich den Weg an großen Steinen vorbei und sucht Halt, sobald es glatt wird. An einigen Stellen ist das Wasser tiefer, als es aussieht, aber dann, endlich hat er wieder festen Boden unter den Füßen.
Da stehen sie am grasbewachsenen Ufer, blicken einander an und betrachten Halfdans Hose, die pitschnass geworden ist und von den Hosenträgern noch gerade eben gehalten wird. Gleichzeitig brechen sie in Lachen aus, Hjalmar steht vornübergebeugt da und hält sich den Bauch, das ist so typisch für ihn. Er muss sich auf das feuchte Moos setzen.
So ist es immer, wenn sie beide allein sind, wenn sie den Augenblick genießen können und Hjalmar sich sicher fühlt. Zu Hause ist er stets auf der Hut. Wie so oft ist Halfdan froh, dass er mit seinem jüngeren Bruder allein ist, dass sie trotz des Altersunterschiedes etwas Gemeinsames haben.
»Komm jetzt, wir müssen weiter.«
»Sind wir sehr verspätet, Halfdan? Jetzt wird Großvater bestimmt böse.«
»Wenn wir uns beeilen, kommen wir vielleicht noch rechtzeitig.«
Die Sonne steht jetzt tiefer am Himmel, aber sie sind fast zu Hause. Das letzte Stückchen rennen sie über den staubigen Weg, bis sie Grini vor sich erblicken, die wuchtigen Hofgebäude, das Wohnhaus, den Stall und die hellgrünen Felder, die sich nach Westen hin ausdehnen.
Natürlich ist es Halfdan, der vorangehen muss. Vorsichtig öffnet er die Doppeltür zum Esszimmer und wird unmittelbar von der durchs Fenster scheinenden Abendsonne, von glitzerndem Kristall und blankgeputztem Silber geblendet.
Inzwischen sind sie wieder zu Atem gekommen, die Herzen pochen nicht mehr so heftig. Als sie durch den Rosengarten liefen, schlug die Uhr. Hjalmar hatte die Abkürzung durch ein Beet genommen und sich in einem Dornenbusch verheddert, sein Hemd riss und bekam ein Loch. Mit schnellen Schritten erklommen sie die Treppe, streiften verdreckte Schuhe und feuchte Kleider ab, wuschen die schmutzigen Hände in der Waschschüssel und fuhren sich mit einem Kamm durchs Haar.
Jetzt stehen sie in der Tür zum Esszimmer, direkt vor der schweigenden Versammlung. Alle Blicke sind auf sie gerichtet, und Hjalmar verbirgt sich halbwegs hinter dem älteren Bruder.
Halfdan schaut zum Großvater am Tischende, öffnet den Mund zu einer Erklärung, sie waren nur am Østernvann, haben geangelt, gebadet und die Zeit vergessen. Doch er bleibt stumm, denn das Gesicht des Großvaters ist ausdruckslos, offenbar ist eine Erklärung oder Entschuldigung gar nicht erwünscht. Ein strenger Blick auf die beiden leeren Plätze ist ein unausgesprochener Befehl. Leise setzen sie sich, Hjalmar neben Ida, deren Haar zu kunstvollen, von Bändern zusammengehaltenen Zöpfen geflochten ist, ein hübsches, etwas verwachsenes Kind mit ordentlich gefalteten Händen in einem rosa Seidenschoß.
Halfdan nimmt seinen Platz neben Regnald ein, dem elfjährigen jüngeren Bruder. In seinem frisch gebügelten Hemd sitzt er mit ordentlich gekämmtem Haar brav am Tisch und beißt sich nervös auf die Unterlippe.
Prüfend lässt Halfdan den Blick weiterwandern. Neben Regnald, am kurzen Tischende, sitzt die Mutter, ihr burgunderroter Mund ist zusammengekniffen. Sie sieht ihn warnend an und richtet ihre gehäkelte Stola, die kurz davor ist, von der Schulter zu gleiten. Und dann – ein winziges, entnervtes Zucken mit dem Kopf. Er weiß, was sie denkt. Dass die Jungen nie pünktlich sind und ihren Großvater stets reizen müssen. Aber freut sie sich denn nicht, sie zu sehen? Es ist doch kein Weltuntergang, wenn sie ein paar Minuten zu spät kommen zum Abendessen beim Großvater in Grini? Jetzt sitzen sie doch hier, beide wohlbehalten, nichts Schlimmes ist geschehen. Aber so denkt sie wohl nicht, das weiß er nur zu gut.
Die Abendsonne fällt schräg ins Zimmer und lässt eine silbergraue Haarsträhne an ihrer Schläfe aufleuchten. Alle sagen, sie sei eine Schönheit. Aber fühlt sie sich alt? Seit einiger Zeit benutzt sie so viel Schminke, trägt so prachtvolle Kleider. In diesem Licht, vor der grünen Tapete mit Pfauen und Schlingpflanzen, sieht es aus, als wäre sie Teil einer Theaterinszenierung. Vielleicht hat sie auch Pläne für den Abend. Vielleicht gibt es ja eine Gesellschaft in Bogstad, Halfdan glaubt, dass es am Abend zuvor erwähnt wurde, gerade als sie angekommen waren und der Großvater im Garten Erfrischungen bereithielt. Als er kleiner war, hatte er Angst bekommen, wenn die Mutter plötzlich nicht mehr da war, wenn er spät am Abend wach wurde und merkte, dass sie nicht zu Hause war. Nach einer Weile ließen die Tränen nach, und das Kindermädchen brachte ihn wieder ins Bett.
Am langen Ende des Tisches sitzen die beiden Kleinen mit dem Rücken zum Fenster. Axel ist sieben, mit allzu großen Schneidezähnen und einem neugierigen, zum Bersten gespannten Blick. Wo seid ihr gewesen, scheint er zu fragen? Neben Axel, gegenüber von Halfdan, sitzt Theodor mit dem hellblonden Haar und den prallen Gliedern, fast scheint es, als wäre einer der rundlichen Engel aus einem Gemälde des Großvaters herabgestiegen, zu Fleisch und Blut geworden und hätte sich der Gesellschaft angeschlossen. Damit allerdings endet auch die Ähnlichkeit mit überirdischen Wesen, denn gleich unter seinen Stirnlocken glüht der beleidigte Blick des Vierjährigen, der darauf hindeutet, dass vermutlich erst vor wenigen Minuten ein Wutausbruch stattgefunden hat. Theodor hat mehr Temperament als sie alle zusammen, doch ob es am Alter liegt oder einfach ein Teil seiner Persönlichkeit ist, lässt sich nur schwer einschätzen.
An seiner Seite sitzt natürlich Dorthe. Sie ist schon so lange ihr Kindermädchen, wie Halfdan zurückdenken kann, eine entfernte Verwandte des Vaters aus Dänemark. Jetzt ist sie in fortgeschrittenem Alter und etwas runder, als es ihr stünde. Sie trägt das Haar unvorteilhaft in der Mitte gescheitelt. Die meiste Zeit ist sie mit Theodor beschäftigt. Unaufhaltsam jagt sie ihm nach, sie schwitzt und keucht und schimpft, je mehr sie sich aufregt, desto unverständlicher wird ihr Dänisch. Jetzt starrt sie Halfdan und Hjalmar resigniert an, als stünde ihre Berufsehre auf dem Spiel, jetzt, da alle sehen können, dass die Jungen das mit der Pünktlichkeit noch nicht begriffen haben.
Halfdan sieht seinen Vater an. Der sitzt am Tisch, als wäre das völlig normal, und doch ist es eher überaschend. Eine Weile war er bettlägerig und hatte sogar in Erwägung gezogen, das Wochenende zu Hause in Bakkehus zu bleiben, doch kurz vor der Abreise ging es ihm besser. Rein physisch scheint er anwesend zu sein, zusammen mit ihnen, aber sein Blick ist fern und jetzt auch fieberglänzend. Und selbst wenn er bemerkt haben sollte, dass Halfdan und Hjalmar erst in letzter Sekunde gekommen sind, scheint es ihn doch nicht zu interessieren, er wirkt, als sehnte er sich zurück in seine friedliche Kammer, in die Stille mit weichen Federbetten und Samtvorhängen, die den Sommerabend aussperren.
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