Er knipst das Licht auf dem Nachttisch an. Das Bett summt und der Oberkörper des Mannes richtet sich auf. Dieses Zimmer sieht nach Krankenhaus aus. Über dem Mann eine Triangel aus grauem Plastik und neben dem Bett eine blinkende Maschine, aus der durchsichtige Kabel bis zu seiner Nase führen. Seine Haut ist fleckig und eingefallen, ich ahne die Konturen des Schädels unter den Falten und den altersgrauen, dünnen Haaren. Die Augenbrauen sind buschig und die Bartbehaarung voller als der Kopf. Er setzt sich eine große, dunkelbraune Hornbrille auf, die heute wieder in Mode ist, sie scheint in die Nase einzusinken. Als er aufrecht sitzt, streckt er die Hand aus. Schmal, mit dicken Gelenken, aber ein kräftiger Griff.
„Ich bin Kasper.“
„Alex, hallo.“
„Du bist neu hier, oder?“
„Knapp zwei Wochen.“
„Also auch ein Gast. Na und, was fehlt uns denn?“
Drei Wochen später habe ich die Ergebnisse der Blutuntersuchung, des Ultraschalls, der Magenspiegelung und der Computertomografie. Besser gesagt, Doktor Münchenberg hat sie, Oberarzt der Gastroenterologie. Verrückt, dass ich dieses Wort irgendwann mal flüssig aussprechen kann. Doktor Münchenberg ist kaum älter als ich, hat einen rasierten Schädel, trägt eine dickrandige, schwarze Brille und begrüßte mich bei unserem ersten Treffen mit einem zugewandten Lächeln. Jetzt sitzt er mit ernstem Gesicht hinter seinem Schreibtisch und sortiert Bilder und Ausdrucke, sieht sich immer wieder einzelne Seiten an. Dann kommt er um den Tisch herum, nimmt meine Hand und drückt Zeige- und Mittelfinger rechts unter die Rippen. Ich setze mich auf.
„Atmen Sie tief ein. Spüren Sie das?“
Ich taste, wie es mein Hausarzt getan hat, und nicke unsicher.
„Da ist etwas. Aber ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlen soll. Also, normalerweise.“
Er setzt sich auf die Ecke seines Schreibtisches.
„Das soll nicht da sein. Aber es könnte alles Mögliche sein, angefangen bei festen Dingen, die Ihren Darm durchwandern. Doktor Clemens hatte mir von der Erkrankung Ihres Vaters berichtet und von Ihrer Reaktion, als diese zur Sprache kam. Deshalb hielten wir es für angebracht, Sie nicht zusätzlich zu belasten und jedes Gespräch über einen Tumor zu vermeiden, solange wir keine Gewissheit hatten. Die histologische Untersuchung der Gewebeproben aus der Magenspiegelung hat unseren Verdacht aber unglücklicherweise bestätigt. Es tut mir wirklich leid, aber was Sie spüren, ist ein Karzinom. Sie haben Magenkrebs.“
~
Ich lasse mich nach hinten in den Stuhl sinken, die Hände auf den Lehnen, den Blick auf den Schreibtisch, auf die Papiere gerichtet.
Krass.
Ich habe Jahre damit verbracht, Krebs aus meinem Kopf und aus meinem Leben zu verdrängen. Bis auf Bene und Lisa weiß niemand in meinem Freundeskreis von meinem Vater. Ich rede nicht über Krebs, ich klicke jeden Artikel darüber weg, und wenn es in Gesprächen zum Thema wird, klinke ich mich aus. Das ist nicht leicht, heute führt ja irgendwie alles zum Krebs. Jedes Symptom kann irgendeine Art von Krebs sein. Regelmäßig sterben Promis daran und selbst, wenn es nur um das Sternzeichen geht, kribbelt meine Kopfhaut.
Weil immer, wenn es um Krebs geht, spüre ich diese kleine, brennende Flamme der Gewissheit. So wie andere wissen, wenn es die Liebe ihres Lebens ist, so wusste ich schon immer, dass ich Krebs bekommen werde. Mein Vater hatte ihn, also werde ich ihn auch haben. Ich dachte nur, wenn ich ihn lange genug meide, dann schaffe ich es vielleicht, ihm zu entkommen. Am Arsch.
Alles Gedanken, die später kommen. Erstmal schlucke ich nur und denke gar nichts. Und bekomme nichts mit. Spüre Lisas Hand, die sich auf meine legt. Drehe den Kopf zu ihr, sie hat schon lange begriffen. Sie sieht den Doktor an.
„Was genau bedeutet das?“
Er greift hinter sich und zieht ein schwarz-weißes Bild hervor. Ein Apfel, von oben, in der Mitte aufgeschnitten. Und dann erkenne ich die Wirbelsäule, rechts und links davon die Rippen und die Organe darin. Das bin ich, von oben, in der Mitte aufgeschnitten. Der Arzt zeigt auf einen grauen Bereich, der die rechte Seite fast ausfüllt.
„Das ist Ihr Magen. Sehen Sie diesen dunkleren Bereich? Das ist der Tumor. Das ist das, was Sie unter Ihren Rippen spüren. Und das spüren Sie auch nur, weil Sie so mager sind. Und das hier in der Leber sieht aus wie eine Absiedlung. Metastasen.“
Er redet weiter und sieht abwechselnd Lisa und mich an, aber ich bin nicht ansprechbar, reagiere nicht und bekomme nur Bruchstücke mit. Lisa stellt die Fragen. Sie sammelt die Informationen. Sie kümmert sich.
Im Sommer nach unserem Abitur machen Bene und ich eine Tour durch Deutschland. Wir beerdigen meine Mutter, packen den alten Volvo 740, der jetzt mir gehört, und fahren sechs Wochen lang durch die Republik. Der Wagen ist groß und eckig und für diese Reise unser Zuhause. Wir besuchen Städte und Freunde, wir schlafen auf der Matratze im Kofferraum, wir werden ADAC-Gold-Mitglieder und decken uns am Tag der Abfahrt in einer Filiale mit Karten für ganz Deutschland ein. Wir wollen es machen wie früher. Oder wie in unserer romantischen Vorstellung früher war.
Wir meiden Autobahnen, weil der Weg das Ziel ist, und wenn ich fahre, kurbelt Bene das Fenster runter und spielt auf seiner Gitarre, was immer ihm durch den Kopf geht. Manchmal Lieder, die wir mitsingen können, oft aber Melodien, die er sich in diesem Moment ausdenkt. Manchmal sehen wir tagelang nur andere Menschen, wenn wir tanken oder einkaufen. Dann verbringen wir wieder ein paar Tage bei Leuten, die wir irgendwann kennengelernt und denen wir beim Abschied versprochen haben, sie mal zu besuchen.
Diese Versprechen, die man, wenn man sie gibt, von Herzen ernst meint und gleichzeitig weiß, dass sie nie gehalten werden. Auf dieser Fahrt halten wir sie. Wir sitzen morgens in der offenen Heckklappe und klicken uns durch die Telefonnummern, bis einer von uns einen Namen nennt, wir uns an einen Urlaub, eine Party oder was auch immer erinnern und anrufen.
Einige Nummern sind nicht mehr vergeben, andere haben keine Zeit oder wollen nicht, dass wir vorbeikommen. Aber es gibt genug Leute, die sich freuen. In Weimar schleppen wir einen Tisch aus einer engen WG-Küche auf den Gehweg neben das Auto und frühstücken dort. In Neuss springen wir nur mit Boxershorts bekleidet zusammen mit den Mädels, die wir dort kennengelernt haben, in den Rhein. Bis jemand uns aus dem Wasser ruft, die Strömung ist zu stark. In der Nähe von Hannover verbringen wir ein paar Tage auf einem Aussiedlerhof und verstehen, wie viel Arbeit es ist, sich abgeschnitten von der Welt selbst zu versorgen. Und dann erzählt uns jemand von diesem Festival in der Nähe von Berlin.
~
Schon in der Schlange vor dem Festivalgelände lernen wir die ersten Leute kennen, und nachdem wir das Auto zwischen all den anderen Nachtlagern abgestellt haben, ziehen wir los. Tagelang sehen Bene und ich uns nur zufällig, ansonsten ist jeder für sich unterwegs.
Am Tag vor unserer Abfahrt komme ich mittags zum Auto und sehe Bene im offenen Kofferraum sitzen, mit einem Eimer zwischen den Beinen. Ein Mädchen sitzt bei ihm und streichelt ihm über den Rücken.
„Sieht so aus, als ob ich morgen fahre.“
Beide sehen auf.
„Kannst du fahren?“
„Klar.“
„Geil. Das ist Lisa.“
Das verschmierte Grün um ihre Augen lässt sie groß erscheinen, ihre Wangen glitzern ein wenig, der Armreif aus Leuchtstäben am linken Arm leuchtet nicht mehr. Die roten Locken fallen offen auf die Schultern, das bunte Hemd ist weit und lang und bedeckt im Stehen ihre Shorts, kurz abgeschnittene Jeans. Sie ist hübsch, besonders wenn sie so lächelt. Aber auf diesem Festival glitzern alle Wangen, alle lächeln und bewegen sich sanft zu den Beats. Ich habe in den letzten Tagen zu viele hübsche Menschen gesehen, zu viel Musik, zu viel Kunst und Besonderes. Ich freue mich darauf, mit Bene auf irgendeiner Lichtung zu halten, vielleicht ein Buch zu lesen und Benes Gitarre zuzuhören. Oder einfach den Geräuschen des Waldes.
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