Dorthea Abrahamsen erhob sich und trat hinüber in die Küche. »Möchten Sie einen Kaffee?« Sie holte eine Thermoskanne aus dem Schrank und versuchte, sie unter die Kaffeemaschine zu stellen. Die eigentliche Kaffeekanne stand halbvoll in der Spüle. Roland stand auf und nahm ihr die Kanne aus der Hand. Ihre Augen flackerten, als sie ihn anschaute. Der Abwasch war nicht gemacht worden. Der Boden klebte von etwas Verschüttetem, das nicht aufgewischt worden war. Irgendetwas war in einem Topf auf dem Herd angebrannt. Zwei Abfalltüten standen auf dem Boden, eine in der Nähe der Tür und eine direkt an der offenen Küchenschranktür. Die Frau hatte offensichtlich Gedächtnisprobleme. War sie dement? Hatte sie nicht schon gestern ein wenig seltsam auf ihn gewirkt? Warum hatte sie sich nicht darüber gewundert, dass ihr Enkel nicht nach Hause gekommen war? Das Bett in seinem Zimmer war unberührt gewesen. Gestern hatte Roland das dem Schock über sein Verschwinden zugeschrieben. In so einer Situation geraten schließlich die meisten aus dem Gleichgewicht. Vielleicht sorgte Tobias auch einfach ganz allein für sich und sie hatte in seinem Zimmer nichts zu suchen. Es konnte vielerlei Gründe geben. Aber trotzdem, hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Alzheimer vielleicht. Jedenfalls sollte sie in diesem Zustand nicht allein sein. Er bedeutete Mikkel, ihm die Jacke der alten Frau zu geben, die im Eingangsbereich hing. Mikkel rollte mit den Augen, als er sie Roland reichte, was ihm erneut einen warnenden Blick seines Kollegen einbrachte. Er legte die Jacke um Dorthea Abrahamsens schmale Schultern und führte sie, einen Arm um ihren Rücken gelegt, die Treppe hinunter.
»Also, Sie möchten keinen Kaffee? Victor kommt bestimmt bald zurück und …«
»Ich glaube, es ist am besten, wenn wir den Kaffee bei uns trinken.«
Mikkel öffnete die Autotür und Roland half der kleinen Frau auf den Rücksitz.
9
War er es womöglich? Schaute er sie nicht so merkwürdig an? Und hatte er das nicht auch die anderen Male gemacht, als er vor ihr auf dem Stuhl gesessen hatte? Ging sein Atem nicht ein bisschen schwer und keuchend, so wie der, den sie immer am Telefon hörte? Wirkte er nicht auch ein wenig … Oder waren das genau die Vorurteile, die sie sonst nicht haben wollte? Die sie absolut nicht haben durfte? Aber waren solche Ängste nicht oft auch berechtigt? Wenn sie an die Fälle zurückdachte, in denen Sozialarbeiter überfallen worden waren, war der Täter nicht oft genug jemand mit einer anderen ethnischen Herkunft gewesen?
Irene lächelte so selbstsicher und entgegenkommend, wie sie konnte, und reichte ihm die Papiere. »Sie können sie draußen im Vorzimmer unterschreiben und sie dort abgeben, dann kümmere ich mich um den Rest.« Ihre Hände berührten sich, als er die Papiere entgegennahm, sie fürchtete, dass er sie festhalten, ein Messer ziehen würde. Seine Haut war fast schwarz, die Handflächen hell. Er kam aus Simbabwe. Aber dann strahlten blendend weiße Zähne in dem dunklen Gesicht auf, auch die Augen lächelten.
»Mache ich. Danke, Frau Benito. Bis nächste Woche.«
Irene atmete langsam aus, während sie ihm mit den Augen hinaus vor die Tür folgte. Ihr Herz klopfte in wildem Galopp. Nein, natürlich war es nicht Solomon Kahari; seine Familie war vor Mugabes Regime geflohen, und nun half sie Solomon dabei, sich auf dem Arbeitsmarkt zurechtzufinden. Das war keine leichte Aufgabe, obwohl er ausgezeichnet Dänisch sprach, gute Qualifikationen hatte und gewillt war, jede Arbeit anzunehmen. Sie goss Wasser in ein Glas, nahm einen Mundvoll und ließ das feuchte Nass die Mundhöhle abkühlen, bevor sie schluckte. Und sich schämte. Die Arbeitgeber hatten genau dieselben Vorurteile, die ihr selbst gerade eben zu schaffen gemacht hatten. Vorurteile, gegen die sie in der Gesellschaft doch so hart ankämpfte, die sie abzubauen versuchte. Niemand sollte aufgrund seiner Hautfarbe oder Herkunft diskriminiert und vorverurteilt werden. »Irene, reiß dich zusammen«, flüsterte sie sich zu.
Durch die halboffene Tür sah sie den nächsten Klienten ungeduldig auf der Couchecke aus kobaltblauem Stoff sitzen. Sie war nun nicht mehr so modern, wie sie es damals gewesen war, als sie sie eingerichtet hatten. Den Wartebereich hatten sie in Gemeinschaftsarbeit so gemütlich wie möglich gestaltet – mit Blumen auf dem Tisch und einem Automaten mit Kaffee, Tee und Wasser für die Wartenden. Es war nicht immer leicht abzuschätzen, wie lange jedes Gespräch dauern würde. Einige waren schnell abgefertigt, während andere unaufhörlich irgendwelche Sachverhalte diskutierten, die ohnehin nicht zu ändern waren. Birthe ging draußen auf dem Flur vorbei und grüßte den Wartenden, er erwiderte den Gruß reserviert. Sie waren drei Sozialarbeiterinnen, die nebeneinanderliegende Büros und untereinander einen guten Zusammenhalt hatten, trotzdem hatte sie weder Birthe noch Sonja von dem Telefonterror erzählt, dem sie ausgesetzt war. Birthe war auch schon einmal von einem Klienten belästigt worden; er war über eine regierungsamtliche Kürzung seines Arbeitslosengeldes ungehalten gewesen und handgreiflich geworden, sodass sie die Polizei hatten rufen müssen. Irene wälzte Nacht für Nacht ihre Fälle im Kopf, war inzwischen aber zu dem Schluss gekommen, dass sich eigentlich niemand von ihr ungerecht behandelt fühlen konnte. Oder umgekehrt eben alle: Es war nie schön, im Leben von anderen abhängig zu sein, die einen berieten. Aber Beratung war auch das Einzige, was sie machte, sie bestimmte nicht. Das taten diese Leute selbst – in den meisten Fällen. Vielleicht trug auch die Tatsache, dass sie mit einem Kriminalkommissar verheiratet war, dazu bei, dass sie den Vorfall für sich behielt. Würde sie die anderen einweihen, würden sie sich bestimmt darüber wundern, warum Rolando in der Sache nichts unternahm. Der aber hatte genug Probleme.
Sie drehte den Stuhl zum Fenster und schaute hinaus ins Licht des Vormittags. Der Rathauspark war gut besucht. Leute mit Hunden und Kinderwagen gingen dort unten spazieren. Rolando hatte die Neuigkeit von Olivias Schwangerschaft und bevorstehender Hochzeit glücklicherweise recht ruhig aufgenommen. Doch seine Augen waren kohlschwarz geworden, daher wusste sie, dass der Zorn in ihm schwelte. Aber er musste das einfach als ein freudiges Ereignis sehen – nach jenem Schrecklichen, das der Familie zugestoßen war. Vielleicht war es Salvatores Seele, die nun in dem kleinen neuen Menschen wiedergeboren wurde. Glaubten die Katholiken eigentlich an so etwas? Sie drehte den Stuhl zurück zum Schreibtisch, suchte die entsprechenden Papiere heraus und bereitete sich darauf vor, den nächsten Klienten zu empfangen; einen Drogensüchtigen, der zum Entzug wollte – zum zweiten Mal. Sie fühlte sich jetzt ruhiger, schloss aber die Tür nicht, als er sich setzte. Birthes Tür direkt gegenüber war ebenfalls angelehnt.
»Kommst du auch mit zu mir herüber zum Mittagessen?« Sonja Dam Andersen steckte ihren ergrauten Kopf zur Tür herein.
»Wir essen heute bei dir?«
»Ja, ich habe etwas, was wir feiern sollten, deswegen habe ich eine Kleinigkeit bestellt.«
Sonja war ihre Vorgesetzte, wenn man das so nennen konnte. Jedenfalls hatte sie die Verantwortung für das gesamte Büro, führte sich aber nicht wie eine Chefin auf. Sie war ganz bodenständig und jovial, sodass Irene eigentlich nie an den Hierarchieunterschied zwischen ihnen dachte – nur in Momenten wie jetzt, wenn sie in Sonjas Büro trat. Es war das größte im Haus, mit einem Konferenztisch in der einen Hälfte. Deswegen wurde das Büro auch für größere Meetings benutzt, an denen Sonja in der Regel teilnahm. An den Wänden hingen moderne Gemälde und ein weicher Teppich lag auf dem Boden. Irene und Birthe mussten sich dagegen mit Parkettboden begnügen, auf dem die hohen Absätze laut klackten. Das Essen war gekommen und duftete vom Konferenztisch. Praktisch und unzeremoniös wurde es auf Papptellern und mit Plastikbechern für die Getränke serviert. Typisch Sonja.
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