Dorthe Nors
Handkantenschlag
Erzählungen
Aus dem Dänischen
von Ulrich Sonnenberg
Saga
Bei uns zu Hause gab es Hunde und Katzen, und die Katzen hatten dermaßen die Oberhand, dass es kaum zu glauben ist. Sie verdroschen die Hunde morgens, mittags und abends. Diese Hunde bezogen unglaublich viel Prügel, und einmal im Jahr hatte sich der Hass der Hunde auf die Katzen so angestaut, dass sie eine der Nachbarskatzen auf einen Baum jagten und warteten, bis sie wieder herunterkam, um sie dann zu fressen.
Sie kann die anderen unten hören, Janus ist auch noch da. Er hat sich gerade in ihrem Zimmer von ihr verabschiedet, nun sagt er Mutter an der Haustür auf Wiedersehen. Dann ist es still, abgesehen von ihrem älteren Bruder, der auf der anderen Seite des Flurs die Dusche anstellt. Der Geruch der gebratenen Frikadellen ist bis in ihr Zimmer gezogen, sie liegt im Bett auf der Seite, das Kopfkissen zwischen den Knien. Noch immer spürt sie die Feuchtigkeit seiner Spucke direkt unter ihrer Nase, und seinen Finger. Er hat nur versucht, nett zu sein, sonst nichts. Sie schaltet den Fernseher ein, sieht sich den Schluss der Regionalnachrichten an, dann bleibt sie bei einer Sendung hängen, in der irgendjemand nach einem verschwundenen Angehörigen sucht.
Die Hauptperson des Abends ist ein Sohn, der seinen Vater nicht finden kann. Er ist dreißig, ein wenig füllig, und als er erklärt, dass er nicht wütend auf seinen Vater ist, scheinen ihm jeden Moment die Tränen zu kommen. Er versteht einfach nicht, warum sein Vater ihm nicht geschrieben hat. Auf die Frage der Moderatorin, ob er deshalb traurig ist, kann der Sohn nur nicken.
Dann recherchiert ein hellblonder Journalist, der, wie Louise sich erinnert, irgendwann einmal den Ministerpräsidenten für die Nachrichten interviewt hat, in verschiedenen Archiven. Er befragt Personen in öffentlichen Institutionen nach dem verschwundenen Vater, der den seltsamen Namen Corri Nielsen trägt. Jetzt steht der blonde Journalist vor einem Wohnblock in einem Kopenhagener Vorort, roter Backstein. Er soll an einer Tür klingeln, die Adresse hat er im Gemeindebüro erfahren, Corri Nielsen habe dort mal gewohnt. Nun werden wir ja sehen, ob jemand zu Hause ist , sagt der Journalist, als er auf die Klingel drückt. Eine ältere Dame mit kurzer Dauerwelle erscheint. Als sie die Tür öffnet, schaut sie nicht in die Kamera, und offensichtlich ist sie auch nicht überrascht, als der Journalist sagt, er komme von Danmarks Radio. Wir suchen nach einem Mann namens Corri Nielsen , erklärt der Journalist. Die Frau macht die Tür ein wenig weiter auf und sagt: Ja, Corri hat hier gewohnt . Der Journalist nickt. Kennen Sie Corri? , will er wissen. Ja , antwortet die Frau.
Es stellt sich heraus, dass die Frau, die Louises Ansicht nach ein unscheinbares Gesicht hat, mit Corri Nielsen verheiratet war, allerdings sind sie inzwischen geschieden. An der Einrichtung der Wohnung sieht Louise, dass sie vermutlich nicht viel gemeinsam hatten. Doch das ist dem Journalisten egal. Er will wissen, ob sie weiß, wo Corri sein könnte. Die Frau lächelt, und erst jetzt schaut sie direkt in die Kamera. Sie sieht stolz aus, als sie sagt: Ja, ich weiß, wo Corri ist .
Obwohl Louise genau weiß, dass man an dieser Stelle nicht abschalten sollte, stellt sie den Fernseher ab. Ihr älterer Bruder schlurft über den Flur, sonst ist es still. Von Janus ist keine SMS gekommen, aber immerhin war er besorgt, ob es vielleicht wehgetan hat. Sie blickt auf sein Foto am Spiegel, er hat braunes Haar und zieht es offenbar vor, auf Fotos nicht zu lächeln. Auch ein Bild von ihren Eltern im Urlaub auf Bornholm steckt dort. Ist schon lange her, überlegt sie und denkt noch einen Moment an Corri Nielsen und Janus, der ziemlich groß ist. Außerdem hat er lange hübsche Finger, nur benutzt er ständig die Zunge, wenn sie sich küssen. Es ist eigenartig, dass er nicht hin und wieder auch mal die Lippen einsetzt. Zunge ist okay, aber es erinnert sie an damals, als sie und ihr Bruder ihrem Vater geholfen haben. Für fünf Kronen in der Stunde sollten sie Briefumschläge anlecken und zukleben. Sie saßen sich an einem großen ovalen Tisch gegenüber und leckten. Es war schon in Ordnung, dort zu sitzen, wenn nur die Umschläge nicht gewesen wären. Sie kann sich erinnern, weil sie keine Lust hatte, ihren Bruder anzuschauen, der einen Wettkampf beginnen wollte, wessen Stapel zugeklebter Umschläge schneller wuchs. Stattdessen schaute sie hinunter auf ihre Arbeit. Nur guckte sie zu lange auf die Adressen, mit denen die Umschläge bedruckt waren. Die Briefe gingen alle an Männer, und wegen all dieser Adressen dachte sie an die Menschen, mit denen sie nichts zu tun hatte. Sie stellte sich vor, wie sie in ihren fremden Wohnzimmern auf und ab gingen. Sie sah sie durch große Sporthallen laufen, vor Ampeln in Autos sitzen oder ihre Fahrräder und Mopeds den Bordstein entlangschieben. Aber es waren nicht einfach bloß Fremde, eher waren sie wie ein leeres Blatt Papier, das man gern bemalen möchte. Als bliebe man mit der Mutter vor dem Fenster einer Metzgerei stehen und sieht in der Spiegelung der Scheibe, wie ein Mann sich danebenstellt. Er schaut auf die Kochwurst. Der fremde Mann am Fenster überlegt, ob er die Wurst kaufen soll, doch dann entscheidet er, es nicht zu tun. Er dreht sich um und geht. Kurz, bevor er um die Ecke biegt, bleibt er stehen und wirft einem selbst oder der Mutter einen merkwürdigen Blick zu.
So hatte sie sich die Situation vorgestellt, und sie hatte sich auch ausgemalt, wie sie dem Mann durch die Straßen bis zu seiner Haustür, ins Treppenhaus und in den zweiten Stock folgte. Sie ging mit ihm in die Wohnung, in die Küche. Hier kochte der Mann Kaffee und rückte das Foto auf der Anrichte zurecht. Dann setzte er sich ins Wohnzimmer und sah sich die Nachrichten an.
Sie hatte bemerkt, wie er mit seinem Daumen über die Armlehne rieb. Sie hatte ihm zugesehen, wie er sich die Nachrichten anschaute und Koteletts aß. Dann begleitete sie ihn bei den Verrichtungen auf der Toilette und erlebte die Atmosphäre im Schlafzimmer, bis der Mann seine Zeitschrift beiseite legte und den Arm ausstreckte, um das Licht zu löschen. Dort hatte er in seinem weißen Bettzeug gelegen und nach Bettdecke gerochen, Louise hätte gern geweint. Sie wollte den Mann wachrütteln und fragen, ob er ein Auto hätte. Wenn er ein Auto besaß, musste er sie jetzt nach Hause fahren. Sie wollte nicht länger bleiben. Sie wollte zurück zu ihrer Mutter, aber das ging nicht, denn dieser Mann, der eigentlich nur ein Name auf einem Briefumschlag war, hatte sich an ihr festgeklebt. Als sie später an sämtlichen Türen im Hausflur des Mannes klingelte, um zu fragen, ob jemand etwas von dem Mann wusste, der im zweiten Stock wohne, sagten die Leute, sie wüssten nichts. Er hätte Olsen, Madsen, Hansen oder Nielsen heißen können. Niemand kannte ihn.
»Geht es dir gut, soll ich Vater holen?«, hatte ihr älterer Bruder an jenem Tag in Vaters Büro gefragt, als sie die Umschläge anleckten, und Louise erinnert sich, dass sie geantwortet hatte, sie würde den Kleber nicht vertragen. Als sie sagte: »Ich habe so ein komisches Gefühl im Bauch«, hatte ihr Bruder den Vater geholt.
Aber das war damals, denkt sie und fährt mit dem Finger unter den Rand ihres Höschens. Die Haut ist dünn und noch immer empfindlich, aber das wird sich sicher geben. Jetzt räumt Mutter den Geschirrspüler ein und Vater stellt die Spätnachrichten lauter. Sie schaltet ihr Handy stumm und schließt die Augen. Keine Nachricht von Janus. Eigentlich auch ein seltsamer Name.
Er pfeift nach seinem Hund, legt ihm das Halsband an und zieht ihn ein Stück vom Waldrand fort, damit sie nicht auffallen.
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