„Der fährt sicher zum Markt, um sein Rind zu verkaufen“, sagt Thomas, als er unser Erstaunen bemerkt.
Wenig später erreichen wir eine Brücke. Darunter befindet sich ein breites Flussbett. „Ole, kannst du dir vorstellen, dass der Fluss im August voller Wasser ist?“, fragt mich Thomas sichtlich belustigt. Ich schüttle den Kopf. Beim besten Willen, das kann ich mir absolut nicht vorstellen. Unter der Brücke ist nämlich weit und breit nur Sand zu sehen. Nicht das kleinste Rinnsal kann man erkennen. Stattdessen spielen ein paar Jugendliche dort Fußball.
Nachdem wir unzählige Motorräder überholt haben und an einem großen Markt vorbeigefahren sind, sagt Thomas: „So, jetzt haben wir es geschafft. Da vorne ist die Missionsstation! Dort wohnen wir.“
Er fährt langsamer und biegt schließlich ab. Wir halten vor einem Tor. Ein Mann in einer schwarz-roten Uniform öffnet eine Schranke. Er lacht und winkt uns freundlich zu. Thomas grüßt ihn durch das Fenster. Zu uns gewandt erklärt er: „Das ist unser Wächter! Er kontrolliert ein bisschen, wer hier auf die Station kommt.“
Einen Moment später hält unser Auto vor einem zweistöckigen Haus. Thomas meint schmunzelnd: „Passt auf, es kann sich nur um Sekunden handeln, bis euch das Begrüßungskomitee in Beschlag …“
Noch bevor er seinen Satz beenden kann, kommen Jakob und Ina um die Hausecke geflitzt. „Sie sind da!“, rufen sie und springen vor Begeisterung auf und ab. Allerdings hätte ich mir unter Begrüßungs- Komitee etwas anderes vorgestellt: Die beiden sind von oben bis unten mit Dreck verschmiert. Jakob reißt die Autotür auf und schwingt dabei eine Hacke. Ina wedelt mit einer Schaufel. „He Ole!“, schreit Jakob. „Toll, dass du da bist! Wir bauen eine Lehmhütte. Machst du mit?“
„Jetzt lasst den armen Ole doch erst mal richtig ankommen“, wehrt Thomas ab. Aber Ina grinst mich nur keck an und erwidert: „Er ist doch richtig angekommen, sonst wäre er ja nicht da!“
Ich rutsche vom Autositz nach draußen. Im gleichen Moment öffnet sich die Haustür und Kerstin kommt heraus. Auch sie freut sich riesig uns zu sehen. Sie umarmt erst Mama und Papa und kommt dann auf Leonie und mich zu.
„Hallo ihr zwei! Schön, dass ihr da seid!“, sagt sie und verwuschelt meine blonden Haare. Ich grinse etwas verlegen, denn es ist doch eine ganze Weile her, seit ich Kerstin das letzte Mal gesehen habe. Außerdem trägt sie ein afrikanisches Kleid und ein Kopftuch. Damit sieht sie so anders aus als bei ihrem Besuch in Deutschland.
Plötzlich spüre ich eine kleine krustige Hand in der meinen. Unter einem dunklen, sandigen Lockenkopf grinst mich die kleine Mia an: „Du mitkommen. Bauen groooßes Haus!“
„Ja, Ole“, ruft jetzt auch Jakob ungeduldig, „nun komm doch endlich!“
Kerstin sieht mich prüfend an: „Willst du nicht erst noch was essen? Ich habe eine Kleinigkeit für euch vorbereitet.“
„Wie gut“, höre ich Leonie erleichtert sagen, „die belegten Brote im Flugzeug habe ich einfach nicht runtergekriegt.“
Aber ich schüttle den Kopf. „Ich hab grad keinen Hunger.“
Mama runzelt die Stirn, doch Papa nickt mir aufmunternd zu: „Geh nur! Wir rufen dich dann spätestens zum Abendessen!“
Ich grinse ihn vielsagend an und beeile mich zu verschwinden, bevor Mama noch etwas erwidern kann.
Mit Mia an der Hand folge ich Jakob und Ina. Als wir in den Garten kommen, entdecke ich zwei afrikanische Kinder, die in einem Loch durch tiefen Matsch waten. Jakob stellt sie vor: „Das hier ist Bouba. Er ist unser Nachbar und wohnt gleich nebenan. Und das ist Yicka. Er ist unser Freund aus der Kinderstunde.“
Die beiden lächeln mich freundlich an. Sie strecken mir ihre matschigen Hände entgegen und ich schüttle sie noch etwas schüchtern, denn ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. „Sag Bonjour!“, flüstert mir Jakob zu.
Ich stammle verlegen: „Bonjour“, worauf die beiden in schallendes Gelächter ausbrechen und sich mit den Händen auf die Oberschenkel klatschen. Ich bin sauer. Machen die sich etwa lustig über mich?
Aber Jakob lacht auch: „Super Ole! Die freuen sich, dass du ihnen „Hallo“ gesagt hast.“ Dann sagt er etwas zu den beiden auf Französisch. Sie nicken. Yicka zeigt auf mich und sagt: „Ole!“
„Ja“, antworte ich. Da grinst er von einem Ohr zum andern, gibt mir nochmal die Hand und sagt: „Gudden Dag!“ Da müssen wir alle lachen und mein Ärger ist verflogen.
Jakob erklärt mir, dass sie hier vorhin die Erde mit der Hacke gelockert haben. Dann haben sie Wasser dazugegeben und jetzt muss der Matsch mit den Füßen gestampft werden. Er zeigt auf ein weiteres Loch: „Dort haben wir gestern schon gestampft. Der Lehm ist soweit, dass man ihn in die Form füllen kann.“
Ich sehe, wie Ina den Matsch in einen kleinen rechteckigen Holzrahmen füllt und ihn mit der Schaufel festklopft. „Komm, du kannst mir helfen!“, ruft sie mir zu. „Du musst die Form da an der Seite festhalten. Ich halte sie auf der anderen Seite und dann ziehen wir sie langsam nach oben.“
Erstaunt sehe ich, wie ein rechteckiger Lehmstein zurückbleibt. Wow, das ist ja gar nicht so schwer! Ina drückt mir eine Schaufel in die Hand. Vorsichtig ziehe ich meine Sandalen aus und stelle sie an den Rand des Matschlochs. Ich trete einen Schritt vor und merke, wie meine Füße im Lehm versinken. Kleine Steinchen kratzen an meiner Haut. Es kitzelt. Ich bohre meine Schaufel in den Matsch und gemeinsam mit Ina fülle ich die Form.
„Wie viele Steine braucht ihr denn für euer Haus?“, frage ich.
„Och, bestimmt über 200!“, antwortet Jakob, während er wie ein Wilder im Dreck stampft. „Aber wir haben schon 134. Die trocknen da drüben in der Sonne!“
Ich drehe mich um und sehe ein Meer aus braunen Lehmsteinen auf dem sandigen Boden liegen. „Beschwert sich eure Mutter da nicht, wenn ihr den ganzen Garten mit Steinen zupflastert?“.
„Nö. Sie ist ja froh, wenn wir beschäftigt sind. Außerdem haben wir ihr erklärt, dass das halt so ist, wenn man eine Baustelle hat. Da müssen alle ein bisschen leiden, aber hinterher ist es dann umso schöner!“, gibt Ina zurück.
„Wir übernachten wollen in Haus“, klärt Mia mich auf.
Ich sehe sie erstaunt an, aber Jakob meint nur ernst: „Jetzt kommt und arbeitet, sonst werden wir ja nie fertig!“
Ina und ich formen einen Stein nach dem andern. Das macht mir richtig Spaß. Allerdings beginnt mein Magen irgendwann zu knurren. Ein Glück, dass es nicht mehr lange dauert, bis Thomas uns zum Abendessen ruft. Natürlich kann ich mit meinen matschigen Füßen unmöglich am Esstisch erscheinen. Deshalb bringt mich Thomas erst einmal zu der kleinen Wohnung, in der ich mit Mama, Papa und Leonie während unseres Urlaubs wohnen werde.
Bis jetzt habe ich nur den Garten von Bäumlers gesehen, aber nun merke ich, dass die Missionsstation ganz schön groß ist. „Wohnen da überall Leute?“, frage ich Thomas.
„Nicht überall. In der Mitte der Station sind Büros und dort hinten ist die Kirche.“ Er zeigt auf ein großes Gebäude mit einem kleinen Glockenturm davor. „Dort werden wir an Weihnachten in den Gottesdienst gehen.“ Dann zeigt er mit seinem Finger auf das Haus daneben: „Hier wohnt die Familie von Bouba, der euch heute Nachmittag bei den Lehmsteinen geholfen hat. Sein Papa ist der Pastor der Gemeinde hier.“
In diesem Moment tritt ein Mann vor das Haus. Als er Thomas entdeckt, kommt er fröhlich winkend auf uns zu. „Da ist er ja!“, freut sich Thomas. Sie geben sich die Hand und unterhalten sich eine Weile. Ich würde zu gern wissen, über was sie reden, aber ich verstehe nichts, weil sie Französisch sprechen. Auf einmal zeigt Thomas auf mich und der Pastor beugt sich zu mir herunter. Er schaut mir gerade in die Augen, gibt mir die Hand und sagt etwas zu mir. Da mir nichts Besseres einfällt, stammle ich unsicher „Bonjour“, worauf er laut lacht und meine kleine Hand in seiner riesigen Hand unzählige Male schüttelt.
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