Schließlich geht der Gottesdienst los. Die Mitarbeiter setzen sich auf ihre Plätze und auch ich gehe auf einen für mich reservierten Platz in der ersten Reihe. Als ich mich umdrehe, stelle ich fest, wie voll die Kirche ist. Heftig. Überall sitzen die jungen Menschen. Sogar der Mittelgang ist mit Jugendlichen belegt, die sich auf ihre Jacken auf den Fußboden gesetzt haben. »Herzlich willkommen zum ersten Jugo in diesem Jahr«, sagt ein sehr junges Mädchen vorne am Mikrofon. Ich schätze sie auf vielleicht zwölf Jahre, sie macht die Moderation schüchtern, ohne große Gestik, aber auch sehr charmant, und vermutlich ist jeder im Raum sofort auf ihrer Seite. Das Mädchen stellt den Ablauf des Gottesdienstes vor und sagt auch, dass ich heute als Gast da bin und wann ich mit der Predigt drankomme.
Als nächster Programmpunkt wird ein kleines Theaterstück aufgeführt. Die Idee, mit solchen kurzen Vorführungen einen Gottesdienst einzuleiten, kommt von einer Gemeinde aus den USA. Willow Creek, so heißt sie, hat mit ihrem Konzept des »gästesensitiven Gottesdienstes« auf der ganzen Welt etwas Neues ins Leben gerufen. Überall wird dieses Konzept mittlerweile kopiert. Im Groben geht es darum, einen Gottesdienst auf die Gäste auszurichten und nicht auf die Gemeindemitglieder oder eine alte Kirchentradition. Musik, Anspiel, Ansagen, Videosequenzen, alles soll in einer lockeren Art vorgetragen werden, sodass Gäste sich wohlfühlen. Eine Maxime ist, dass jeder fromme Part immer wieder neu erklärt werden muss. Ein gästesensitiver Gottesdienst soll davon ausgehen, dass es immer wieder Besucher gibt, die zum ersten Mal da sind.
Ich bin heute viel zu aufgeregt, um mir das ganze Stück anzuschauen. Ich rutsche auf meinen Platz hin und her. Immer wieder diese Nervosität vor jeder Predigt, immer wieder diese Angst. Wird das denn nie besser? Zu guter Letzt spielt auch wieder der Magen verrückt. Adrenalin, Krämpfe, Schmerzen, die mir sagen, dass ich unbedingt noch auf die Toilette gehen muss. Es ist ein altes Spiel, ich kenne das. »Sag mal, habt ihr hier ein WC in der Kirche?«, frage ich den Pastor notgedrungen, der zum Glück direkt neben mir sitzt. Ich halte den Druck nicht mehr aus. »Ja klar, in der Sakristei!«, antwortet er überraschend freundlich. Vielleicht kennt er ja das Problem? Schnell verschwinde ich hinter den Vorhang und gehe auf das stille Örtchen. Was für eine Erleichterung. Ich höre im Hintergrund, dass die Moderatorin mein Video ansagt. Es gibt einen fünfminütigen Clip von meiner Lebensgeschichte, die ein Freund in Berlin aufgenommen und geschnitten hat. Das Video trägt den Namen »Gott gibt dich nicht auf«, man kann es sich von Youtube aus dem Internet runterladen. Das hatte der Veranstalter wohl getan und für die Jugendlichen im Gottesdienst an eine Leinwand geworfen. Jetzt aus der Toilette raus, Hände waschen und schnell zurück in das Hinterzimmer der Kirche.
Schließlich höre ich, wie mich das Mädchen nach vorne bittet. »Und jetzt kommt Martin Dreyer und hält seine Predigt!« Sofort packe ich meine Bibel unter den Arm, renne durch die Sakristei direkt auf die Bühne. Uff. Schritt für Schritt gehe ich auf das Rednerpult zu und mit jedem Schritt wird das Gefühl der Angst größer. Ich spüre ein Pochen in meinem Hals, das Blut steigt in meinen Kopf, mir wird warm. Auch wenn ich am liebsten wegrennen will, etwas zwingt mich weiterzugehen, weiter nach vorne. Ich möchte niemanden enttäuschen, die Jugendlichen haben sich so viel Mühe gemacht. Ich spüre die erwartungsvollen Blicke der Gottesdienstbesucher. Ein Rückzug ist unmöglich, ich muss da jetzt durch. Also gehe ich weiter in Richtung Mikrofon und Rednerpult. Jetzt stehe ich vorn.
In der Kirche ertönt lauter Beifall. Sehr ungewöhnlich und es fühlt sich auch etwas komisch an. Aber auch nicht schlecht, es dämpft meine Angst ein wenig. Das Mädchen stellt mir einige gute Fragen, die Jugendliche vor dem Gottesdienst auf einen Zettel schreiben und in eine Box werfen konnten. Da stehen solche Fragen drauf wie: »Was ist deine Lieblingsband?« (Kraftklub). Oder: »Wie sah dein schönstes Erlebnis aus?« (die Geburt meiner Tochter). Oder: »Was ist dein Fußballverein?« (St. Pauli). Ich merke, dass mit dem Interview meine Angstattacke langsam abschwillt. Das ist gut. Nachdem unser Gespräch vorbei ist, geht das Mädchen von der Bühne, und der Schweinwerfer fällt auf mein Lesepult. Also kann ich mit meiner Predigt beginnen. Der Pastor hat vorher eng mit mir abgestimmt, zu welchem Thema ich sprechen soll. Ihm ist es wichtig, eine Predigt über die Konsequenzen zu hören, die jeder tragen muss, wenn er Christ sein will. Dazu habe ich mir passend ein Gleichnis von Jesus als Bibelstelle ausgesucht, in der Christus die Radikalität der Glaubensnachfolge aufzeigt. Ich lese aus der Bibel die Stelle aus dem Matthäusevangelium im 13. Kapitel ab Vers 14 vor. Dort vergleicht Jesus das Himmelreich mit einem Schatz, der in einem Acker versteckt liegt. Er beschreibt, wie jemand diesen Schatz zufällig entdeckt und so begeistert davon ist, dass er seinen ganzen Besitz verkauft, nur um diesen einen Acker zu erwerben, in dem der Schatz verborgen ist. Das Lesen fällt mir nicht schwer, egal, wie groß mein Lampenfieber ist, vorlesen kann ich immer.
»In diesem Gleichnis von Jesus stecken eigentlich nur zwei Aussagen. Aber die haben es in sich!«, rufe ich den Jugendlichen zu. »Die erste Aussage benenne ich so: Das Leben mit Gott ist wie ein unheimlich wertvoller Schatz! Es macht dich reich, es ist das Beste, was dir passieren kann. Viele Leute glauben das nicht! Immer wieder höre ich, dass Menschen denken, Christsein wäre unheimlich mühsam, es würde das Leben einschränken, es wäre dumm, es wäre langweilig, es wäre nicht attraktiv. Es würde dich arm machen. Aber Jesus sagt hier genau das Gegenteil. Der Glaube ist ein riesengroßer Schatz! Wer diesen Schatz einmal entdeckt hat, der will ihn nie wieder hergeben. Er ist das Wertvollste, was ein Mensch jemals in seinem Leben finden kann. Es gibt nichts Besseres, glaubt mir. Wisst ihr das? Glaubt ihr das?« Ich schaue in die Runde und habe das Gefühl, die meisten der Jugendlichen hören mir zu. In der ersten Reihe sehe ich einige Gesichter, die mich freundlich lächelnd anschauen. Das ist der Durchbruch. Jetzt ist meine Aufregung plötzlich komplett verschwunden. Ich fühle mich erleichtert und frei. Es braucht eine positive Reaktion, um mit meiner Panikattacke umgehen zu können, das ist interessant.
Also rede ich weiter: »Aber Jesu sagt noch eine zweite Sache: Wenn du diesen Schatz haben willst, musst du vorher alles verkaufen, was du hast. Der Schatz ist nicht billig. Er ist nicht kostenlos, er ist kein Spiel. Er ist nichts zum Wegwerfen, zum einmal Gebrauchen und dann in den Müll. Er kostet dich etwas, nämlich alles.« Im Kirchenschiff wird es still. Der nächste Abschnitt ist dafür da, den Jugendlichen klarzumachen, was das für sie praktisch bedeuten könnte. »Nur von Samstag in der Jugendstunde bis Sonntag im Gottesdienst Christ zu sein bringt es nicht wirklich. Erst wenn du deinen Glauben auch im Alltag lebst, sieben Tage die Woche, dann kann er seine ganze Kraft entfalten. Dieser kraftvolle Glaube kostet etwas, er durchdringt alle Entscheidungen, er bestimmt letztendlich das ganze Leben. Aber wenn er das tut, dann gibt es auch nichts Besseres. Christ zu sein hat eine unheimlich hohe Qualität, und viele Nichtchristen beneiden Menschen, die an Gott glauben können. Das wird mir immer wieder erzählt.«
Jetzt bin ich so richtig in Fahrt und habe völlig vergessen, wie spät es eigentlich ist und auch, was der Pastor mir vorher im Briefing an Regeln gesagt hatte. In einigen Kirchen ist es ausdrücklich erwünscht, dass man nach einer Predigt auch einen Aufruf macht. Aufruf ist ein Fachbegriff aus der evangelikalen Szene. Es bedeutet, dass man den Zuhörern eine Möglichkeit gibt, durch eine öffentliche Geste auf die Predigt zu reagieren. Diese Geste oder dieser Schritt nach vorne ist dabei immer mit einem Gebet verbunden. Das kann bedeuten, dass die Zuhörer, wenn sie sich angesprochen fühlen, nach einem Aufruf von ihren Plätzen zum Gebet aufstehen. Oder auch dass sie aufstehen und sogar nach vorne zum Altar kommen, um dort für sich beten zu lassen. In anderen Kirchen möchte das der Leitungskreis oder auch der Pastor ausdrücklich nicht, weil sie es als manipulativ und unecht empfinden. Wie ich es hier in Chemnitz machen sollte? Ich habe es in dem Augenblick vollkommen vergessen. Ich bin voll im Flow und lasse mich von meinen Gefühlen leiten. Also gehe ich einfach weiter mit meinen Gedanken.
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