KAPITEL 3: Glanz und Elend eines Jungpolitikers Kapitel 3 GLANZ UND ELEND EINES JUNGPOLITIKERS Wenn man die verblüffende Entwicklung seit dem Systemwechsel im Allgemeinen und den einzigartigen Aufstieg der Fidesz-Partei, vor allem seit 1998 und erst recht seit 2010, im Besonderen verstehen will, muss man zuerst die persönlichen, politischen und letztlich unüberbrückbaren Querelen in der kleinen Kerngruppe in Erinnerung rufen. Als Viktor Orbán und 36 andere Studenten am 30. März 1988 den Bund der jungen Demokraten (Fidesz) als eigenständige Jugendorganisation im großen Saal des Budapester Bibó-Kollegiums gründeten, beschäftigte diese gewagte Herausforderung der zerfallenden kommunistischen Staatspartei zuerst nur die Geheimpolizei, die sofort – allerdings vergeblich – versuchte, die Gründungsväter unter Druck zu setzen. Niemand von den drei Dutzend Jus- und Ökonomiestudenten Mitte Zwanzig hätte wohl damals gedacht, dass sie in diesem etwa 30 bis 35 Quadratmeter großen Saal im Erdgeschoss der einst von einem sozialistischen Arzt (József Madzsar) und seiner Frau (Alice Jászi), einer berühmten Tanzkünstlerin und Pädagogin, errichteten Villa, im Hintergrund mit einem großen Garten, die vielleicht erfolgreichste Partei in der ungarischen Geschichte gründen würden. Das Gründungsdokument deklariert das Ziel der Schaffung einer neuen, selbständigen und unabhängigen Jugendorganisation, die die politisch aktive, radikale, reformistische Jugend sammeln will. Zwei Bedingungen sind für die Mitgliedschaft maßgeblich: Die Altersgrenze wird zwischen 16 und 35 Jahren festgelegt, und man darf nicht dem Kommunistischen Jugendverband angehören. Bereits nach vier Wochen zählte der Fidesz eintausend Mitglieder. Die breite Öffentlichkeit erfuhr allerdings erst nach der aufsehenerregenden Rede Orbáns am Heldenplatz am 16. Juni 1989 überhaupt von der Existenz der neuen Gruppierung.
KAPITEL 4: Der Weg zum ersten Sieg Kapitel 4 DER WEG ZUM ERSTEN SIEG Im Sommer 1994 erlebte Viktor Orbán den Tiefpunkt seiner politischen Karriere. Während die postkommunistischen Sozialisten ihre Mandate verfünffachten und trotz ihrer absoluten Mehrheit aus Gründen der politischen Optik nach außen mit den Liberalen (SzDSz) sogar eine Koalitionsregierung bildeten, die über 72 Prozent der Sitze verfügen konnte, sank der Fidesz bei den Umfragen bis Dezember sogar auf bloß 5 Prozent. Knapp vier Jahre später, im Mai 1998, gewann dieselbe Partei die Wahlen und Orbán wurde Ministerpräsident Ungarns, der jüngste Regierungschef in der Geschichte des Landes und damals auch Europas. Wie war das möglich, was waren die Gründe für diese wahrhaft sensationelle Wende?
KAPITEL 5: Der junge Komet Kapitel 5 DER JUNGE KOMET Der überraschende Sieg des Fidesz 1998 machte den Weg frei für einen Umbau des Staatsapparates durch die dominierende politische Kraft. In der zweiten Wahlrunde konnte der Fidesz durch die Unterstützung der anderen Rechtsparteien in den Wahlbezirken die Zahl seiner Mandate auf 148 versiebenfachen. Zusammen mit den wiedererstarkten Kleinlandwirten (48 Mandate) und dem geschrumpften MDF (19 Mandate) bildete Viktor Orbán eine rechtskonservative Koalitionsregierung mit einer starken absoluten Mehrheit. Auf die Unterstützung der 14 Abgeordneten der von dem während der Antall-Regierung aus dem MDF ausgeschlossenen rechtsradikalen Schriftsteller István Csurka gegründeten rechtsextremistischen und antisemitischen Partei MIÉP war er nicht angewiesen. Der Biograf des Regierungschefs, József Debreczeni, zitierte einen Ausspruch Orbáns, allerdings noch aus dem Jahr 1992: »Die Kleinlandwirte-Partei ist am weitesten entfernt vom Fidesz … Mit ihnen eine Koalition zu bilden, darf nicht einmal in unseren schlimmsten Träumen geschehen.« Ironisch fügte der enttäuschte Autor hinzu: »Träume werden manchmal wahr.« Wenn man aber die häufigen Richtungswechsel auch bei rechten sowie linken Parteien im Westen in Betracht zieht, bleibt die Schlussfolgerung unvermeidlich, dass es einen politischen Zynismus gibt, der Werte nur so lange respektiert, als sie nicht mit den eigenen Interessen zusammenstoßen.
KAPITEL 6: Die Totengräber der Linken
KAPITEL 7: Megaskandal um Gyurcsánys »Lügenrede«
KAPITEL 8: Orbáns Sieg im Kalten Bürgerkrieg
KAPITEL 9: Das Erdbeben
KAPITEL 10: Die neue Landnahme
KAPITEL 11: Das Ende der Gewaltenteilung
KAPITEL 12: Der nationale Freiheitskampf
KAPITEL 13: Ein fragwürdiger Wahlsieg
KAPITEL 14: Der Preis für die »Orbánisierung«
KAPITEL 15: Macht und Geldgier der Günstlinge
KAPITEL 16: Die Mächtigen des Hofstaates
KAPITEL 17: Ungarns »Führerdemokratie«
KAPITEL 18: Orbáns Rolle in einem zerfallenden Europa
Namenregister
Anmerkungen und Quellen
VORWORT
zur überarbeiteten und erweiterten Auflage
Ich habe das Angebot von Kremayr & Scheriau zur Herausgabe einer überarbeiteten und erweiterten Neuauflage dieser vor viereinhalb Jahren erschienenen Biografie Viktor Orbáns aus mehreren gewichtigen Gründen angenommen.
Erstens ist es ihm gelungen, seine Machtposition sowohl national wie auch international so stark auszubauen, dass seine Regierung heute als der gefährlichste Störenfried in der gespaltenen und seit dem Ausscheiden Großbritanniens geschwächten Europäischen Union gilt. Das ungarisch-polnische Bündnis der beiden rechtspopulistischen und nationalistischen Regierungsparteien, oft unterstützt, wenn auch nicht in allen Fragen, von den zwei anderen sogenannten Visegrád-Staaten Slowakei und Tschechien, bildet das größte Hindernis auf dem Weg zur engeren europäischen Zusammenarbeit.
Zweitens strebt Orbán seit seinem neuerlichen Wahlsieg im April 2018 nach der schrittweisen Liquidierung des Rechtsstaates und der Medienfreiheit auch die Kontrolle der Wissenschaftsund Kulturpolitik, des Familien- und Bildungswesens an. Nach einem Jahrzehnt der Orbán-Ära ist Ungarn laut dem US-Thinktank »Freedom House« bereits jetzt nur ein »halbfreier« Staat.
Drittens gilt das Land als der korrupteste EU-Mitgliedstaat nach Bulgarien und die Bereicherung der Familie und der Freunde des absoluten Herrschers wird von den ungarischen Soziologen und Politologen als ein beispielloses Phänomen in der modernen ungarischen Geschichte betrachtet.
Die erste Auflage der Orbán-Biografie ist bisher ins Englische, Polnische, Rumänische, Slowenische und Ungarische übersetzt und im Dezember 2018 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet worden.
Auch dieses Buch wäre ohne den stilistischen Beistand von Barbara Köszegi und die geduldige und so wertvolle Hilfsbereitschaft meiner Frau Zsóka kaum zeitgerecht zustande gekommen. Ihnen beiden gebührt mein aufrichtiger Dank.
Wien, im Winter 2020
Kapitel 1
DIE ROLLE DER PERSÖNLICHKEIT
Wie wichtig sind Personen und Persönlichkeiten in der Politik? Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Krisen, der Folgewirkungen des internationalen Terrorismus und der grenzüberschreitenden Völkerwanderung zeigen die Meinungsumfragen in den demokratischen Staaten, zusammen mit einem großen Unbehagen und mit der Kritik an der parlamentarischen Diskussion, stets auch eine große Sehnsucht nach dem »starken Mann«. Der menschliche Faktor bleibt schwer fassbar, ja unberechenbar, doch ohne ihn sind alle historischen Betrachtungen unvollständig. Nicht nur in weltgeschichtlichen Situationen, sondern auch in der jüngsten mittel- und osteuropäischen Geschichte waren und sind die Konflikte zwischen den Kräften der Beharrung und jenen der Reform, zwischen Öffnung und Abkapselung zuweilen mit geradezu dramatischen Wandlungen der politischen Führungspersönlichkeiten verbunden.
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