1 ...6 7 8 10 11 12 ...35 Gerade als es mir am allerschlimmsten ging, überfiel mich plötzlich das Gefühl: Jetzt, jetzt ist hier was Sauiges in der Nähe! Dieses Gefühl machte mich ruhig, als hätte ich plötzlich die Gewißheit erhalten, daß meine Wünsche erfüllt werden würden. Bald würden meine Triebe auf natürliche Weise befriedigt und nicht mehr mit morschen Baumstümpfen und anderen schlechten Ersatzlösungen zum Narren gehalten werden, die auf die Dauer alles nur noch schlimmer machen.
Während ich nun ganz ruhig und gefaßt dastand, um herauszubekommen, welcher Weg zum Ziel meiner Wünsche führte, hatte ich das Gefühl, daß in diesem Wald nicht alles so war, wie es sein sollte, jedenfalls nicht vom Standpunkt eines Wildschweins aus betrachtet. Eine Schar Vögel, die aus einem Wipfel aufgeflattert war, jagte durch den Wald. Ihre Flucht wirkte hastig und unbegründet. Ich sah einen Hirsch zwischen den Stämmen davonspringen. Auch andere Bewegungen, unmerkbare, ließen mich stutzen; auch das plötzliche Verstummen des Vogelgesangs.
Im Wald ist die Zeit des Herbstes zugleich die Zeit der Jagd, die Zeit des Todes. Ich entsann mich: Reiter, wilde Hundemeuten, zwischen den Stämmen widerhallendes Krachen. Doch eben jetzt hörte ich kein Krachen, kein Bellen und keine Hufschläge. Da ich irgendwie die Anwesenheit des Todes spürte, wirkte die Abwesenheit dieser Geräusche sonderbar unheilschwanger.
Was das wohl bedeutet? sagte ich mir; jeder Gedanke an die Sau war wie weggeblasen. Das heißt, ich konnte gerade noch denken: Ach, ich war drauf und dran, die Sau zu finden! Doch so ist das nun mal, wenn sich die Todesangst wirklich meldet, vergißt man alles andere. Und so war es um mich bestellt, und das war ein Zeichen der Gesundheit, sage ich, denn wenn der Tod lauert, ist es gesund, wenn man Angst bekommt. Und ih, wie hatte ich Angst, ich zitterte direkt, und ich sehnte mich danach, daß der Tod sich offenbaren möge, statt sich irgendwo in einem Dickicht, hinter einem Baumstamm oder dort, wo das Gras hoch war, zu verstecken. Laß ihn kommen, dachte ich, laß ihn kommen! Und auf diese Weise flehte ich den Tod fast an, sich zu zeigen, damit ich die fürchterliche Ungewißheit loswerden konnte, mir nicht die ganze Zeit über einzubilden brauchte, daß ich ihn sah: Auf diese Weise war der ganze Wald nämlich voller Tod, als könne er von überallher über mich hereinstürzen. Und doch wußte ich genau, daß er nur an einer Stelle lauerte, in einer bestimmten Richtung, und daß meine Rettung darin bestand, daß ich rechtzeitig entdeckte, in welcher. Deshalb also wiederholte ich, laß ihn kommen! Laß ihn kommen! Als wollte ich ihn beschwören. Und vielleicht glaubte ich, den Tod auf diese Weise täuschen und glauben machen zu können, daß ich auf ihn warten würde, so daß er sich zu früh verriet und mir Gelegenheit gab zu entwischen.
Da, als ich so herumlief und ihn mehr oder weniger direkt heraufbeschwor, geschah es, daß ich plötzlich von einem Augenblick zum nächsten davonraste. Nun glauben Sie vielleicht, daß ich mich überhaupt nicht wie ein richtiges Wildschwein benahm. Aber ich kann Ihnen versichern, wenn es zum Äußersten gekommen wäre und meine Wut und Todesangst sich hoch genug geschraubt hätten, dann hätte ich auch kehrtgemacht und wäre selbst zum Angriff übergegangen. Doch diesmal wußte ich, daß es nur eines gab, nämlich abzuhauen. Ich war, wie gesagt, bereits wild auf der Flucht, und bis heute ist mir nicht klar, welches mystische Signal mir mitteilte, von welcher Seite die Gefahr drohte, in welche Richtung ich folglich flüchten mußte. Vermutlich funktionierte hier mein sechster Sinn, und das war meine Rettung, ich bin ganz sicher. Darüber dachte ich damals natürlich nicht nach, nein, ich rannte bloß, und die Furcht verlieh mir die Kraft, schneller zu laufen als je zuvor. Hier war die enorme Schwere meines Körpers eine gute Hilfe: Die Vereinigung dieses gewaltigen Gewichtes mit der von mir erreichten Geschwindigkeit ließ mich durch die undurchdringlichsten Dickichte brechen, die mein Verfolger ganz sicher umgehen mußte, quer über Wasserläufe und Gräben, vor denen ich unter normalen Umständen haltgemacht hätte. Die Furcht verlieh mir Flügel, wie man sagt, und ich kann bescheinigen, daß dies mehr ist als eine bloße Redensart. Wer aber verfolgte mich? Was war das eigentlich für ein Tod, der mir auf den Fersen war? Das wußte ich noch immer nicht, aber mir war klar, daß die größte Gefahr gerade darin bestand, daß ich anfing zurückzublicken, weil das meinen Lauf unweigerlich aufhalten mußte. Das aber wagte ich nicht, denn ich hatte sowieso das Gefühl, daß der Verfolger aufholte. Wer besaß nun die größte Ausdauer? Das konnte entscheidend sein. Ach, ich hatte gerade meinen Magen mit herrlichem Futter vollgestopft, was ich bitter bereute – aber wie hätte ich ahnen können? Eines jedoch war mir klar: Mein Gefühl, der Tod lauere nur in einer bestimmten Richtung, war richtig gewesen; denn es gab nur einen Verfolger. Geraume Zeit schon hatte der hämmernde Rhythmus eines Pferdehufschlags dazu beigetragen, meine Flucht immer wilder, immer verzweifelter werden zu lassen. In einer Beziehung war das natürlich beruhigend: Ich war nicht in Gefahr, umzingelt zu werden, ich steuerte, dessen war ich gewiß, das sagte mir mein Gefühl, nicht geradewegs auf eine ausgeklügelte Falle aus Reitern und Hunden zu, die nur darauf warteten, sich auf mich zu stürzen, wenn ich erschöpft genug und eine leichte Beute für ihre scharfen Zähne und todbringenden Projektile war. Doch das war nur ein armseliger Trost. Irgendein anderer Tod holte auf, von hinten und offenbar besessen von einer wilden Begierde danach, mir den Garaus zu machen, koste es, was es wolle. Aber konnte ich denn nicht kehrtmachen und mich diesem fürchterlichen Verfolger stellen? Wäre es nicht besser und würdiger gewesen, den Kampf aufzunehmen? Das klingt sehr schön, wenn man es so dahersagt, doch warum soll man würdig sterben, wenn man durch die Flucht überleben kann? Wie ich bereits gesagt habe, mir war klar, daß mein einziges Heil in der Flucht lag, so feige und memmenhaft das auch klingen mag. Umdrehen würde ich mich erst in dem Augenblick, in dem ich vor einer Mauer stand und nicht weiterkonnte, mich umdrehen und bereit sein zu sterben. Vorläufig aber bestand keinerlei Aussicht auf eine Mauer, und die Todesangst, die mich erstarrte, verhinderte nicht, daß ich gleichzeitig Kräfte mobilisierte, Ressourcen in meinem Körper ausnutzte, von deren Existenz ich keine Ahnung gehabt hatte.
Langsam, aber sicher holte der Tod auf. Ich war wie verhext bei dem Gedanken daran, in wem sich dieser Tod wohl verkörpert hatte, durch wen er mich mit so unmenschlicher Entschlossenheit verfolgte, und nur mit Mühe und Not widerstand ich der Versuchung, mich umzudrehen, um endlich einen kurzen Blick auf den Verfolger werfen zu können. Die Hufschläge kamen immer näher. Während meiner kopflosen Flucht war ich in Wälder gekommen, in denen ich nie zuvor gewesen war. Hin und wieder sah ich zwischen den Stämmen den blanken Spiegel eines Sees. Der Rhythmus der Hufschläge hielt sich unverändert, vielleicht war er sogar ein klein wenig schneller geworden, wogegen ich merkte, daß ich selbst nicht mehr dasselbe Tempo hielt. Die Todesangst wuchs, doch die Möglichkeiten meines Körpers waren allmählich erschöpft. Geplatzte Adern ließen mich alles durch einen roten Nebel sehen, mein Gehirn raste in einem wilden Aufruhr von Gedanken, Vorstellungen und Bildern, so, als wollten sie sich auch einzeln befreien, in wilder Flucht aus einem geschlossenen Raum und von Vernichtung bedroht.
So war die Lage, als mir klar war, daß der Verfolger nun so dicht heran war, daß es jetzt nur noch eine Frage von Minuten oder Sekunden sein konnte. Auch wenn mich nicht gleich ein tödlicher Schuß treffen würde – das war unwahrscheinlich, weil der Verfolger ja während des Reitens schießen mußte –, so würden in meiner jetzigen Verfassung ein paar ernsthafte Wunden genügen, um die Sache zu entscheiden.
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