Ich war ziemlich müde und entschied mich schleungist für sein Produkt, das er mir voller Begeisterung anmontierte. Von dem Augenblick an und bis zu dem Moment, wo ich mit der Rechnung in der Hand dastand, entsinne ich mich an nichts mehr.
Als ich wieder auf der Straße stand, war ich ganz zufrieden mit mir, und es kam mir vor, als könne ich nun mit weit größerer Zuversicht meiner Lehrzeit in der Fremde entgegensehen. So fühlt man sich nämlich, wenn man seine trübseligen Flügel oder, ich sollte vielleicht eher sagen, Flügelansätze, denn das kommt der Wahrheit wohl näher, sachkundig hat behandeln lassen und sich danach voller Hoffnung in die Welt hinausbegibt. Jetzt kommt es nur darauf an, daß man seine Muskeln trainiert, sagt man sich, wenn man merkt, daß noch nicht alles ganz so ist, wie es sein sollte. Hatte Dr. Müller nicht auch gerade dies besonders betont? Kein Zweifel, in bezug auf Stützen verfahren die Deutschen mit der gleichen Gründlichkeit, die im übrigen alles kennzeichnet, was sie in Angriff nehmen. Hier bleibt wahrlich nichts dem Zufall oder plötzlichen Eingebungen überlassen. Aber nach einiger Zeit mußte ich mir eingestehen, daß mich an den Stützen irgend etwas störte. Vielleicht waren sie zu schwer. Jedenfalls waren die Theorien, die Dr. Müller entwickelt hatte, äußerst sinnreich, um nicht zu sagen verwickelt, und wenn die Stützen diesen Theorien entsprechen sollten, dann war es kein Wunder, daß sie mich bedrückten. Die Briten mit ihrem praktischen Sinn hatten zu jenem Zeitpunkt Stützen hergestellt, die so einfach waren, daß die Leute in den Kolonien sie benutzen konnten: nur mit etwas Bindfaden und mit ein paar Bambusstäben. Und der französische Ingenieur Des Tailler – dessen bizarres Projekt einer von Ballons getragenen schwebenden Stadt auf der Weltausstellung in Paris im Jahre 1900 so viel Lärm verursacht hatte – hatte sich eine elegante, wenn auch zerbrechliche Konstruktion patentieren lassen, die unter den Künstlern, Dichtern und Bohemiens von Montmartre bereits große Verbreitung gefunden hatte.
Doch ich lief da also in Hamburg mit Dr. Müllers eigenhändigem Werk herum, und wenn ich vielleicht auch mit den Stützen eines englischen Gentlemans oder eines französischen Künstlers nicht zurechtgekommen wäre, so war dieses Wunder deutscher Technik aus irgendeinem Grunde an mir ebenfalls fehl am Platz und harmonierte nicht mit den Bedürfnissen meines Körpers. Die Flügel, deren Entwicklung mich geängstigt und zugleich erfreut hatte, waren zwar abgestützt worden, aber jede Bewegung mit ihnen war so kompliziert geworden, daß der Gedanke daran mich schon im voraus erschöpfte und ich sie deshalb nur unter größten Anstrengungen durchführen konnte. Und damit war das Vergnügen flöten.
Elias Lönn hatte mit anderen Worten die Sache so richtig satt, wie er da herumging, und ich kann euch sagen, es fehlte nicht viel, und ihm wären die Tränen gekommen.
Ich entsinne mich noch deutlich an die Empfindung von einer Stadt, in der der Nachmittag sich seinem Ende zuneigt. Ich ging immer weiter, es erschien mir, als befände ich mich auf einer endlosen Wanderung. Ich beschloß, mich der Stützen bei der ersten besten Gelegenheit zu entledigen. Der Kuckuck hole Dr. Müller und seine Platinauflage, sagte ich mir.
Verloren in diese Gedanken und Überlegungen, hatte ich nicht weiter bemerkt, wo ich ging, und nun bog ich um eine Straßenecke, hob den Blick und erlebte eine Offenbarung.
Die Straßen mit ihrem Gedränge von Menschen, in die man immer wieder hineinlief oder von denen man geschubst wurde, mit ihren hohen Häusern und dem rumpelnden Verkehr, hatten mich in dem Maße betäubt, daß mich der Anblick, der sich mir bot, völlig unvorbereitet traf. Tausende von Masten, Hunderte von Kränen, Segeln, Schornsteinen, Rauchfahnen, große und kleine Schiffsrümpfe und die Flaggen vieler Nationen; die Lagergebäude der Kais, Warenhallen, Poller und Trossen; und dann natürlich der Fluß selbst, der mir so groß wie ein Weltmeer erschien und seltsame schwärzliche und blaugraue Farben zeigte, die ich vom Gudenaa und Julsee her nicht kannte, als handelte es sich um zwei verschiedene Arten von Flüssigkeit, die durch einen Irrtum die Gemeinschaftsbezeichnung Wasser erhalten hatten.
Die Offenbarung beruhte jedoch nicht auf der Menge überraschender Eindrücke. Sondern: Die Geräumigkeit der Welt, eine Mannigfaltigkeit unsichtbarer Kontinente, ein unerschöpflicher Vorrat festgehaltener Horizonte, entstrahlte diesem enormen, konzentrierten Wirrwarr, der sich vor mir ausbreitete, und jedes einzelne Wasserfahrzeug, von der kleinsten Jolle bis zum Ozeandampfer, konnte auf dem Wasser diesem Imperium phantastischer Möglichkeiten entgegenfließen. Die Eisenbahn hatte eine einzige, geradlinige, allzu menschliche Dimension, überschaubar und von vornherein in ihrer gesamten Erstreckung bekannt. Die Meere aber breiten sich so unüberschaubar aus, füllen so große Teile der Erdoberfläche aus, daß sie ihrer Natur nach unbegrenzte Möglichkeiten bergen; dazu kommen die Flüsse, deren Wege sich in die Tiefe selbst der unwegsamsten Kontinente winden.
Mir wurde klar, daß die Welt andere Möglichkeiten barg als die, nach Luzern zu fahren, wo Dr. Schaff meine Ankunft erwartete. Ich begann mich deshalb nach einem Heuerbüro umzusehen, das es auf sich nehmen würde, einen jungen Silkeborger, der den Unterschied zwischen Backbord und Steuerbord nicht kannte, auf die Weltmeere hinauszuschicken. Nachdem ich eine Zeitlang umhergewandert war, fand ich eins in einer nahegelegenen Straße, die trotz ihrer Breite und Verkehrsdichte den paradoxen Namen Sackgasse trug. Die Türen zum Büro waren aus irgendeinem edlen Holz und schwer von Messingbeschlägen; sie führten in einen Raum, wo das gleiche edle, doch dunkle Holz der riesigen Schranken, Schreibtische, Pulte und mit schwarzem Leder bezogenen Stühle und Bänke zusammen mit dem dunklen Fußboden und dem spärlichen Licht, das durch ein paar schmale, nach Norden gehende Fenster einfiel, eine ziemlich düstere und gedrückte Atmosphäre hervorbrachte. Und als habe die Luft eine ungewöhnliche Dichte und lasse sich nicht ohne weiteres durchbrechen, war ich ein paar Schritte von der Tür entfernt stehengeblieben und hatte den Hut abgenommen.
Ich war wirklich verwirrt, denn kein Mensch war zu sehen. Erst nach einiger Zeit wurde mir klar, daß es sich bei den matt schimmernden, gelblichweißen Kuppeln, die über die schweren Schranken, hinter denen die Schreibtische standen, zu sehen waren, um die blanken Scheitel des fleißigen Büropersonals handelte. Ich näherte mich schüchtern einer der Schranken. Die Stille wirkte drückend. Die Weltmeere erschienen mir in diesem Augenblick fern und unwirklich, und ich konnte nicht begreifen, daß die Gewalt über die Schiffe, die sie befuhren, oder, genauer gesagt, über die Besatzungen dieser Schiffe und deren Schicksal in den Händen dieser Menschen lag.
Nun hob ein Büroangestellter den Blick und sah mich über einen Abstand hinweg, der mir unermeßlich erschien, fragend an. Ich begriff, daß dies meine Schicksalsstunde war, und begann deshalb ohne Zögern, doch vielleicht etwas durcheinander, mein Anliegen vorzutragen.
Ich komme aus Silkeborg, das ist eine Stadt mitten in Jütland, in Dänemark, wie Sie wissen, wo die einzige Schiffahrt von dem berühmten Raddampfer »Goldregenpfeifer« betrieben wird, der jeden Sommer Passagiere zum Himmelberg und zurück befördert; der Himmelberg ist gar kein Berg, sondern ein heidebewachsener Hügel an dem schönen Julsee. Ich wollte schon immer gern zur See, hatte aber keine Möglichkeit dazu, deshalb kam ich in die Optikerlehre und hatte meinen Hang zum Meer völlig vergessen, bis ich auf dem Weg nach Luzern in der Schweiz, wo mich der große Optiker Dr. Schaff erwartet, in diese Stadt hier kam. Der Anblick der vielen Schiffe und Ozeanriesen in diesem Welthafen weckte meine Erinnerung und eine plötzliche Lust dazu, mich in das Unbekannte zu stürzen. Ich habe nämlich das Gefühl, daß meine Brust bald zerbirst, und um eine solche Katastrophe zu verhindern, muß ich irgend etwas Ungewöhnliches unternehmen. Ist es nicht ein unerträglicher Gedanke, daß die Bahn meines Lebens bereits festliegen sollte? Schon als Kind beschloß ich, daß ich als Held leben würde, und insgeheim habe ich das Gewicht dieses Entschlusses oft in mir nagen gefühlt, ohne daß ich imstande gewesen wäre, etwas dagegen zu tun. Deshalb ersuche ich nun um eine Heuer auf einem Schiff, das auf große Fahrt geht. Das würde mit einem Schlag die Bahn meines Lebens ändern, und wissen Sie, was: Ich meine, daß ein Mensch fühlen muß, daß nicht alles von vornherein festgelegt ist. Denn das ist ja der Tod. Und Sie sehen sicher, daß ich viel zu jung bin, um zu sterben, ganz im Gegenteil, ich möchte leben, und wenn Sie nur begreifen können, wie unendlich sehr ich leben möchte – denn es läßt sich überhaupt nicht beschreiben, aber Sie kennen es ja sicher aus eigener Erfahrung aus der Zeit, als Sie jung waren –, dann, ich bin sicher, werden Sie mir helfen.
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