Laterna magica , in deren grünem Geisterlicht ich die Vergangenheit und Gegenwart sah und Blicke in die Zukunft stahl. Ihr wahrscheinlich auch; ihr erinnert euch nur nicht mehr daran. Denn ich glaube Folgendes: Uns allen ist Magie am Anfang unseres Lebens vertraut. Wir kommen voller Wirbelstürme, Waldbrände und Kometen auf die Welt. Wir werden mit der Fähigkeit geboren, mit Vögeln zu singen und Wolken zu lesen und unsere Zukunft in Sandkörnern zu sehen. Aber dann wird uns die Magie aus der Seele wegerzogen. Sie wird uns rausgepredigt, rausgeohrfeigt, rausgewaschen und rausgekämmt. Uns werden Grenzen gesetzt und man sagt uns, verantwortungsbewusst zu sein. Wir werden angewiesen, uns unserem Alter entsprechend zu verhalten. Endlich erwachsen zu werden, um Himmels willen. Und wisst ihr, warum man uns das sagt? Weil die Menschen, die uns das sagten, Angst vor unserer Wildheit und Jugend hatten, und weil die Magie, die wir kannten, sie sich schämen ließ und traurig machte. Denn sie hatten zugelassen, die Magie in sich selbst verdorren zu lassen.
Wenn man sich erst mal so weit davon entfernt hat, kann man allerdings nicht wirklich wieder zurückfinden. Du kannst ein paar Sekunden davon erleben. Sekundenlanges Wissen und Erinnern. Wenn Kinobesuchern die Tränen kommen, dann liegt es daran, dass dieser goldene Teich der Magie im dunklen Filmtheater berührt wird, ganz kurz. Dann treten sie wieder hinaus in den harten Sonnenschein der Logik und des Verstandes und der Zauber vertrocknet erneut und in ihnen bleibt ein bisschen traurige Sehnsucht zurück, die sie sich nicht erklären können. Wenn ein Lied eine Erinnerung weckt, wenn Staubpartikel in einem Lichtstreifen tanzen und deine Aufmerksamkeit von der Welt ablenken, wenn du nachts in der Ferne einen Zug vorbeirauschen hörst und dich fragst, wohin er wohl fährt, verlässt du das, was du bist und wo du bist. Für einen winzigen Sekundenbruchteil betrittst du das Reich der Magie.
Das ist es, was ich glaube.
Eine Lebenswahrheit ist, dass wir uns mit jedem Jahr weiter von der Essenz dessen entfernen, mit dem wir auf die Welt gekommen sind. Uns werden Lasten zu tragen auferlegt, manche davon gut, andere weniger gut. Dinge stoßen uns zu. Geliebte Menschen sterben. Manche erleiden Unfälle und sind danach verkrüppelt. Menschen kommen auf Abwege, und das aus den unterschiedlichsten Gründen – in diesem verrückten Labyrinth, das unsere Welt ist, fällt es schwer, nicht vom Weg abzukommen. Das Leben an sich tut sein Bestes, uns die Erinnerung ans Magische zu stehlen. Du merkst es gar nicht, bis du eines Tages das Gefühl hast, irgendetwas verloren zu haben, ohne zu wissen, was es ist. Ähnlich, wie wenn man ein hübsches Mädchen anlächelt und sie einen Sir nennt. Es passiert einfach.
Diese Erinnerungen daran, wer ich war und wo ich lebte, sind mir wichtig. Sie sind ein großer Bestandteil von dem, der ich sein werde, wenn meine Reise sich dem Ende neigt. Wenn ich jemals wieder Magie heraufbeschwören will, brauche ich die Erinnerung daran. Ich muss dieses Wissen haben und mich erinnern, und ich will euch davon erzählen.
Ich heiße Cory Jay Mackenson. Meine Heimatstadt war ein Örtchen namens Zephyr im Süden Alabamas. Dort war es nie zu kalt oder zu heiß. Wassereichen warfen ihre Schatten auf die Straßen und die Häuser hatten vorn eine Veranda und Fliegengitter an den Fenstern. Es gab einen Park mit zwei Baseballplätzen, einen für Kinder und einen für Erwachsene. Es gab ein Schwimmbad, dessen Wasser blau und klar war und wo Kinder am tiefen Ende nach Pennys tauchten. Am Unabhängigkeitstag wurde ein Barbecue gegeben und am Ende des Sommers ein Schreibwettbewerb. 1964, als ich zwölf Jahre alt war, lebten ungefähr tausendfünfhundert Menschen in Zephyr. Es gab das Bright Star Café, ein Woolworths und einen kleinen Lebensmittelladen. Draußen an der Route Ten war ein Haus mit leichten Mädchen. Nicht jede Familie besaß einen Fernseher. Das County war trocken, kein Alkohol erlaubt, was bedeutete, dass Schwarzbrenner ein gutes Geschäft machten. Die Straßen waren nach Süden, Norden, Osten und Westen ausgerichtet, und nachts ratterte ein Güterzug auf dem Weg nach Birmingham durch die Stadt und ließ den Geruch von verbranntem Eisen hinter sich zurück. Zephyr hatte vier Kirchen und eine Grundschule, und auf Poulter Hill einen Friedhof. In der Nähe gab es einen See, der so tief war, dass er genauso gut keinen Grund hätte haben können. Meine Heimatstadt war voller Helden und Bösewichter, ehrlicher Menschen, die die Schönheit der Wahrheit kannten, und anderer, für die Lügen Schönheit bedeuteten. Meine Heimatstadt war deiner vermutlich ähnlich.
Aber Zephyr war ein magischer Ort. Bei Mondlicht gingen Geister um. Sie stiegen aus dem grasbewachsenen Friedhof auf und standen auf dem Hügel und unterhielten sich über die gute alte Zeit, in der Coca-Cola noch schmeckte und in der man einen Demokraten von einem Republikaner unterscheiden konnte. Ich weiß das. Ich hab sie gehört. In Zephyr wehte der Wind durch die Fliegengitter an den Fenstern, brachte den Duft von Geißblatt und erster Liebe herein, und gezackte blaue Blitze krachten auf die Erde nieder und rüttelten den Hass wach. Wir haben Wirbelstürme und Dürren mitgemacht, und der Fluss, an dem meine Stadt lag, hatte die schlechte Angewohnheit, über die Ufer zu treten. In dem Frühling, in dem ich sechs war, trieb das Hochwasser Schlangen auf die Straßen. Hunderte von Falken stürzten in dunklem Sturm herab und packten die Schlangen mit ihren tödlichen Schnäbeln und der Fluss schlich sich an seine Ufer zurück wie ein geprügelter Hund. Wie ein Trompetenstoß kam danach die Sonne heraus und von den blutbespritzten Dächern meiner Heimatstadt stieg Dampf auf.
Wir hatten eine böse Königin, die hundertundsechs Jahre alt war. Wir hatten einen Revolverhelden, der Wyatt Earp am O.K. Corral das Leben gerettet hatte. Wir hatten ein Monster im Fluss und ein Geheimnis im See. Wir hatten ein Gespenst, das am Steuer eines schwarzen Dragsters mit Flammen auf der Kühlerhaube die Straße unsicher machte. Wir hatten einen Gabriel und einen Luzifer und einen Rebellen, der von den Toten auferstand. Wir hatten einen Außerirdischen, einen Jungen, der perfekt werfen konnte, und auf der Merchants Street einen frei herumlaufenden Dinosaurier.
Es war ein magischer Ort.
In mir stecken die Erinnerungen an ein in diesem verzauberten Reich verbrachtes Jungenleben.
Ich erinnere mich.
Das hier ist, was ich euch erzählen will.
»Cory? Wach auf, mein Sohn. Zeit, aufzustehen.«
Ich ließ mich von ihm aus der dunklen Höhle des Schlafes hochziehen. Ich schlug die Augen auf und sah zu ihm hoch. Er war schon angezogen, trug seine dunkelbraune Uniform mit seinem weiß auf die Brusttasche gestickten Namen, Tom . Ich roch Eier und Speck, und in der Küche spielte leise das Radio. Eine Pfanne klapperte und Glas klirrte; Mom war ganz in ihrem Element, so unbeirrt, wie eine Forelle in der Strömung steht. »Zeit zum Aufstehen«, sagte mein Vater, knipste die Lampe neben meinem Bett an und ließ mich mit den letzten Bildern eines verblassenden Traums im Kopf blinzelnd allein.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Es war Mitte März und durch die Bäume vor meinem Fenster blies ein kalter Wind. Als ich meine Hand an die Scheibe legte, konnte ich den Wind fühlen. Mom, die wusste, dass ich wach war, als mein Vater zu seiner Tasse Kaffee in die Küche kam, drehte das Radio etwas lauter, um die Wettervorhersage zu hören. Vor zwei Tagen war Frühlingsanfang gewesen, aber in diesem Jahr besaß der Winter scharfe Krallen und Zähne und er hielt die Südstaaten in seinen Klauen wie eine weiße Katze. Schnee hatten wir nicht gehabt – wir hatten nie Schnee –, aber der Wind war kalt und blies aus den Lungen des Nordpols.
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