Jagte noch jemand den Monarchen von Shalloch? Ausgeschlossen. Auf dieser erbärmlichen Insel lebten bloß Schafe und Bauern. Bei solch einem Mistwetter würden sie sich wohl kaum auf die Pirsch …
Noch ein Schuss! Und diesmal stand fest, worauf der Kerl schoss. Hawke versteckte sich hinter einem hervorstehenden Felsen und wartete, wobei er sich auf sein Herz konzentrierte, damit es wieder langsamer schlug. Die nächste Kugel flog mit einem Pfiff knapp über seinem Kopf vorbei. Eine vierte folgte.
Dann blitzte über ihm kurz ein Licht auf – vermutlich die Sonne, deren Strahlen das Visier des Schützen reflektierte. Der Mann stieg folglich nach oben. In seiner gegenwärtigen Position befand sich Hawke in Gefahr. Er schaute sich hektisch nach einer Deckungsmöglichkeit um. Falls der Fremde noch ein paar Fuß weiterkletterte, war er ihm völlig schutzlos ausgeliefert. Jetzt wäre er am liebsten unter den dichten Kronen der Bäume auf dem Steinsims unterhalb.
Hawke stürzte los, womit er den Schutz des Felsens hinter sich ließ. Er landete mit beiden Füßen auf dem Vorsprung, ging in die Hocke und rollte zwischen die Bäume. Etwa 100 Fuß tiefer brandete die kalte, nebelverhangene See gegen den Fels.
Es knallte noch fünfmal, und jede Kugel, die durch die Wipfel der Birken über Hawke drang, zerfetzte Laub oder brach Zweige, die in Stücken auf ihn fielen. Da er Hawke sicher nicht sehen konnte, feuerte der Schütze einfach auf gut Glück.
Hawke nahm die Patrone aus seiner Tasche – sie hatte eine rote Spitze –, drückte sie in die Ladekammer seiner Waffe und zog den Verschlusshebel zurück.
Nun atmete er tief ein und hielt die Luft an, um Geist und Körper zu beruhigen. Hawke war ein ausgebildeter Scharfschütze. Er wusste, die Entfernung zu seinem Ziel betrug 190 Yards, sein Schusswinkel ungefähr 37 Grad und die Luftfeuchtigkeit lag bei 100, während der Wind mit Stärke drei, also sechs Meilen pro Stunde in einem 45-Grad-Winkel von links wehte. Eine Kugel, ein Schuss. Entweder ein tödlicher Treffer – oder eben nicht.
Hirsche konnten das Feuer natürlich nicht erwidern, falls man verfehlte.
Hawke stemmte den Schaft fest gegen seine Schulter. Er schaute durchs Visier und zielte so, dass das Fadenkreuz den Mann quasi in der Mitte teilte. Langsam krümmte er den Finger, während er genau anderthalb Pfund Druck auf den Abzug ausübte, keine Unze mehr. Bleib locker … tief Luft holen … nicht ganz ausatmen … zögere es hinaus.
Das Fadenkreuz deutete nun auf das Gesicht des Mannes. Genau dort wollte Hawke ihn treffen: Zwischen die Augen – auf einen Teil des Schädels, wo ein Treffer unumstößlich den sofortigen Tod zur Folge hatte.
Er drückte ab.
Die Ladung zündete; seine Kugel fand ihr Ziel.
Hawkes Jäger lag auf dem Bauch, eine dunkle Blutlache breitete sich rings um den Rest seines Kopfes aus. Er trug für sein Vorhaben zweckmäßige Kleidung, einen abgenutzten Wachsmantel und eine Drillichhose. Als Hawke die Stiefel des Mannes sah, erkannte er, dass sich um Maßanfertigungen aus dem Geschäft handelte, wo er auch seine schustern ließ: Lobb in der St. James Street, London. Ein Engländer? Er kramte in den Hosentaschen des Toten. Etwas Geld, ein amerikanisches Zippo-Feuerzeug, ein Streichholzbrief von Savoy Grill mit einer Londoner Telefonnummer in weiblicher Handschrift auf der Innenseite.
Die Innentaschen des alten Barbour-Mantels enthielten lediglich Munition und eine Landkarte der Äußeren Hebriden für Touristen, die erst kürzlich gekauft worden sein musste. Nachdem Hawke dem Toten die Stiefel ausgezogen hatte, hebelte er die Absätze mit seinem Jagdmesser von den Sohlen. Der linke Stiefel verfügte über eine gekonnt geschnittene Aussparung.
Darin steckte ein Päckchen, ebenfalls aus Wachstuch. Als Hawke es aufschlug, fand er eine dünne Brieftasche aus Leder mit Logo-Anstecker, dem vertrauten Schild und Schwert des KGB. Die Bedeutung kannte Hawke relativ genau: Der Schild stand für die Verteidigung der ruhmvollen Revolution, das Schwert für die Zerschlagung ihrer Gegner. In dem Etui klemmten in kyrillischer Schrift ausgestellte Papiere, deren Urheber eindeutig das Komitee für Staatssicherheit war.
Weiterhin zog er ein wenig schmeichelhaftes Foto von sich selbst heraus, das neulich in einem Pariser Straßencafé gemacht worden war. Seine Begleitung war eine hübsche amerikanische Schauspielerin aus Louisiana, seine geliebte Kitty. Kurz nach dem Schnappschuss hatte er sie gebeten, ihn zu heiraten.
Handelte es sich bei diesem Mordversuch um einen Einzelfall aufgrund seiner früheren Missetaten, oder hatte der KGB die Operation Redstick durchschaut? Sollte Letzteres stimmen, war das Gelingen des Einsatzes nun zweifelsohne fragwürdig. Die Russen würden ihm auf jener Eisinsel am Nordpol auflauern. Auf das wertvolle Überraschungsmoment verzichten zu müssen verlieh seinen Aufträgen andererseits stets mehr Würze.
Während er so dastand und den Toten betrachtete, nahm eine Idee in seinem Kopf Gestalt an. Die britische Regierung konnte unverzüglich eine verschlüsselte Nachricht über einen Kanal versenden, den der Kreml andauernd abhörte.
»SSN HMS Dreadnought um null-sechshundert an Abholstelle eingetroffen«, sollte die Falschmeldung lauten. »Zwei Leichen vor Ort gefunden: britischer Agent und KGB-Auftragsmörder, beide anscheinend im Kampf gestorben. Mission gefährdet, Einsatz von Marinekommando Whitehall abgebrochen.«
In jedem Fall war es einen Versuch wert.
In dem Jagdrucksack, den Hawke trug, steckte ein ausziehbarer Spaten. Er streifte die Stoffgurte von seinen Schultern, nahm das Werkzeug heraus und ertappte sich, weil er nun wesentlich besser gelaunt war, beim Pfeifen seines Lieblingslieds A Nightingale Sang In Berkeley Square, während er sich in den gefrorenen Boden schuftete.
Manchmal musste man seine Vergangenheit schlicht hinter sich lassen und nach vorn blicken.
Teil Eins
Bermuda, Gegenwart
Krieg und Frieden. Im Leben herrschte gemäß Alexander Hawkes Erkenntnissen entweder das eine oder das andere. Wie sein verstorbener Vater, dessen Vornamen er trug und der ein vielfach für seine heiklen Umtriebe gegen die Sowjets, während des Kalten Krieges, ausgezeichneter Held gewesen war, zog er den Frieden zwar vor, stand aber in dem Ruf, kampferfahren zu sein. Egal, wann und wo auf der Welt seine recht ungewöhnlichen Fähigkeiten verlangt wurden: Alex folgte bereitwillig diesen Anfragen. Wie die Hauptfigur eines Mantel-und-Degen-Films stürzte er sich ein ums andere Mal ins Getümmel.
Nun, mit 33, begann für ihn ein in jeder Hinsicht guter Lebensabschnitt, weil er weder zu jung noch zu alt war. Ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Jugend und Abgeklärtheit, wenn man es so ausdrücken wollte.
Um von vornherein keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Alex Hawke war durch und durch ein Gewaltmensch. Er war keineswegs zimperlich, wenn es ums Zuschlagen ging, ein Heißsporn vom Scheitel bis zur Sohle. Kurz nachdem er aus vollem Halse brüllend auf die Welt gekommen war, hatte sein sehr englischer Vater zu seiner in gleicher Weise typisch amerikanischen Mutter Kitty gesagt: »Ich spüre, der Junge wurde mit einem Herz geboren, das ihn auf jedes Schicksal vorbereitet. Die Frage ist nur, in welche Bahnen er seine mordsmäßige Energie lenkt.«
Normalerweise zeigte er ein zurückhaltendes, gelassenes Wesen, doch sein flammendes Temperament konnte unversehens mit ihm durchgehen. Umso seltsamer erschien, dass sich sein wahrer Charakter oberflächlichen Betrachtern nicht sofort erschloss. Jemand, dem er flüchtig zum Beispiel bei einem Abendspaziergang auf dem Berkeley Square begegnete, konnte ihn als umgänglichen, ja selbst unterhaltsamen Typen ansehen. Ihm wohnte etwas zwanglos Anmutiges inne, eine beschwingte Unbekümmertheit und ein vager Anflug von Heiterkeit in den Augen, die keinerlei Selbstgefälligkeit ausdrückten.
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