Frerichs stemmte seine C1 hoch und kroch darunter hervor. Er robbte zum Straßenrand, musste erst einmal verschnaufen.
Sein Schmerzzentrum feuerte wild. Den Hilfeschrei sandte sein blankes Fleisch aus. Rollsplitt und Dreck hatten sich hineingefressen, ließen es glühen. Doch nicht einmal die Hälfte der Impulse erreichte ihn. Gott Ibu sei Dank!
Frerichs brüllte wütend: »Di sall de Kuckuck halen!«
Der Tesla entfernte sich weiter und weiter. Nicht mehr lange und er würde verschwinden.
Verdoomt noch mal! Frerichs verfluchte die Schwerfälligkeit seines Körpers. He denkt wat langsaam, murmelte er vor sich hin.
Gefühlt mochten Minuten vergangen sein. In Wahrheit waren es sicherlich nur Bruchteile von Sekunden. Mühsam zog er sich in die Aufrechte. Abscheuliche Qualen schüttelten seinen Körper. Doch Frerichs hielt an seinem Plan fest. Er musste die Verfolgung aufnehmen! Auch wenn er gerne anders entschieden hätte. Die Stimme in seinem Kopf verlangte es.
Ungelenk kam er auf die Füße. Mit schlurfenden Schritten bewegte er sich auf seine Maschine zu. Bestimmt glich er einem der Zombies, denen man in den Filmen des Spätprogramms manchmal begegnete, wenn man es nicht rechtzeitig in die Federn schaffte. Gottlob fehlte es an Zeugen und so würde diese filmreife Szene der Nachwelt nicht überliefert werden. Niemals sollte ihm freiwillig ein Sterbenswörtchen dieser Schmach über seine Lippen kommen, schwor er sich. Lieber würde er sich die Zunge abbeißen.
Es bedurfte aller Willensanstrengung, die er zu mobilisieren fähig war und drei Versuchen, bis es ihm endlich gelang, das Motorrad aufzurichten. Mit kaputten Händen war das ein fürchterlich schwieriges Unterfangen – ein jäher Vorgeschmack auf sein vorgezogenes Greisen-Dasein. Der Gedanke hatte etwas Erschütterndes. Er war der Meinung, eine weitere Ibu vertragen zu können und ließ eine Zweite folgen.
Dann hob Frerichs den Stiefel und trat den Starter durch. Zu seiner Überraschung sprang der Motor sofort an. Der kaputten Plastikverkleidung schenkte er keine Beachtung.
Er fuhr an abgeernteten Feldern vorbei, in Richtung des alten Dorfkerns von Ölbenfehn. Grüßende Nachbarn nahm er genauso wenig zur Kenntnis, wie winkende Schulkinder. Seine Aufmerksamkeit galt dem Stück Horizont in seinem Blickfeld.
Dort klebte ein roter Fleck, der unendlich langsam an Größe gewann. Das ließ sich doch beschleunigen! Frerichs legte einen Schalter in seinem Cockpit um. Augenblicklich flackerte das blaue Blinklicht.
Wind war aufgekommen. Die sturmgepeitschten Bäume am Straßenrand überließen ihm ihr letztes Laub. Rote und braune Schwärme welken Blattschmucks trieb er vor sich her.
Onno Frerichs fuhr unbeirrt hindurch. Er dachte gar nicht daran, seine Geschwindigkeit zu verringern, jetzt da der Tesla endlich an Größe gewann. Die wenigen Espen, deren Blätter noch hingen, knatterten im Wind, wie Fahnen im Orkan.
Kurz blieb sein Blick an Otto II hängen, der sich in der Ferne erhob. So nannten die Einheimischen den gelb-rot gestreiften Turm auf dem Feld von Bauer Hein Hansen. Jasper, der Sohn des Bauern war ein Vogelnarr. Mitten auf dem Feld hatte Hansen jr. seine Vogelwarte errichtet. Im Oktober vor fünf Jahren kollidierte Hansens Trecker mit dem Turm. Der Tag war so nebelig gewesen, dass man die Hand nicht vor Augen hatte sehen können. Das jedenfalls hatte der Vater behauptet. Junior baute den Turm wieder auf und verpasste ihm die Signalfarben, damit dieser Unfall sich nicht wiederholte. Das Plagiat Otto II glich seinem Pendant in Pilsum, wie ein Ei dem anderen.
Frerichs wandte sich wieder der Verfolgung des Flüchtigen zu. Das blaue Blinklicht anzusehen machte ihn glücklich. Er hatte es selbst eingebaut. In Momenten wie diesen gab es nichts Besseres. Abgesehen von einer Maschinenpistole, vielleicht. Wirklich schade war, dass er kein Martinshorn besaß. Doch das hätte zu viel Aufmerksamkeit erregt. Außerdem schickt sich das wirklich nicht. Er war Postbote, kein Bulle!
Auf den Fahrer des X-Modells machte es den erhofften Eindruck. Langsam verringerte der Wagen sein Tempo.
Mit einer guten Portion Theatralik näherte sich Frerichs dem stehenden Fahrzeug. Das kannte er aus amerikanischen Polizeistreifen: Betont lässig nähert sich einer der Beamten dem verdächtigen Fahrzeug, während der zweite Polizist beim Streifenwagen bleibt und die Situation mit erhobener Dienstwaffe sichert. Das erhöhte die Dramatik.
Frerichs Behäbigkeit war nicht der Coolness geschuldet, sondern der Pein seines geschundenen Körpers. Jeder Schritt tat schlicht und einfach höllisch weh! Noch war die Ibu nicht angekommen. Aber das konnte nicht mehr allzu lange dauern.
Wie gerne hätte er seine Walther P99 aus dem Holster gezogen. Doch leider besaß er keine. Seine Dienststelle hatte ihn mit einem Block voller Benachrichtigungsscheine und einem Kugelschreiber ausgestattet. Doch wehrlos war er deshalb nicht! Blauer Zigarettenrauch wehte aus dem offenen Fenster zu ihm herüber. Frerichs verbiss sich den Schmerz. Er sammelte alle Kraft für das bevorstehende Gespräch mit dem flüchtigen Fahrer. In Momenten wie diesen musste er sich oft ein Lachen verkneifen. Heute war das unnötig. Die Wut über seine Verletzungen und der Knacks in seinem Stolz verliehen seinem Gesicht die nötige Ernsthaftigkeit. Kein Muskel zuckte darin. Er trat neben die Fahrertür und blickte in das Innere des Sportwagens.
Zu seiner Verwunderung sah er in das Gesicht einer Frau. Sie war allein und hielt den Blick starr auf die Straße gerichtet. Die Finger ihrer linken Hand trommelten nervös auf das Lenkrad. In der anderen hielt sie eine Zigarette. Die Finger der Dame bebten leicht. Damit verriet sie deutlich ihre Gemütslage.
»Stellen Sie bitte den Motor ab und händigen Sie mir Führerschein und Fahrzeugpapiere aus!«, forderte Frerichs mit mühsam bewahrter Sachlichkeit. Einen Augenblick lang glaubte er, dass sie das Gaspedal durchtreten und flüchten würde.
Doch sie überraschte ihn. Sie war eben doch keine Gangsterbraut, und Bonnie und Clyde funktionierte besser zu zweit. Ihre linke Hand hielt in der Bewegung inne. Dann fielen ihre Hände in den Schoss.
Sie löste den Sicherheitsgurt und lehnte sich zum Handschuhfach hinüber. Wortlos reichte sie ihm die gewünschten Papiere durch das Fenster.
Der Führerschein kam im modernen Scheckkartenformat daher, die Zulassung steckte in einem ledernen Mäppchen. Kroko-Leder oder Strauß. Wer konnte das schon wissen? In jedem Fall sah es unanständig teuer aus und passte zu der Dame. Ein französischer oder italienischer Designer vielleicht.
Frerichs nahm die Papiere an sich und schlenderte nach vorne zur Motorhaube. Er bog den Fahrzeugschein auseinander und hinderte das starre Papier daran, sich wieder zusammenzuklappen. Das Papier machte nicht den Eindruck, als würde es oft dem Mäppchen entnommen. Allem Anschein nach wurde die Lady nicht häufig kontrolliert! Den Führerschein legte er neben die Zulassungspapiere. Dann fischte er sein Mobiltelefon aus der Beintasche seiner Cargo-Hose. Rasch machte er von den Ausweispapieren eine Serie Fotos.
Den Familiennamen der feinen Dame kannte Frerichs aus den Revolverblättern. Er hatte schon mal etwas über sie gelesen. Die Frau stammte aus Hamburg und hieß Evelyn Velbert. Wenn er dem Führerschein glaubte, war sie achtundvierzig Jahre alt. Dafür hatte sie noch ein sehr appetitliches und ausgesprochen ansehnliches Äußeres. Bestimmt schuftete sie stundenlang im Fitnessstudio mit einem persönlichen Fitnesstrainer. Bestimmt half man ihr aber auch mit dem neuen ›Aspirin zum Schnupfen‹ oder Botox? Wundern würde es ihn nicht. Taten das nicht alle in der High Society?
Der Name Velbert stand für guten alten Hamburger Geldadel, glaubte Frerichs zu wissen. Gemeldet war die feine Dame in Hamburg am Harvestehuder Weg. Außenalster. Teures Pflaster. Sicherlich eine Villa aus der Gründerzeit, in einem Park gelegen mit den Ausmaßen von einem Dutzend Fußballfelder, oder so.
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