Und das bekam ich auf Anhieb zu spüren, als ich kurz nach dessen goldenem Moment an der Freiluftarena L’Anneau de Vitesse ankam. Flugs sah ich auch einen Athleten im deutschen Trikot, der aber mit meinem Eingangssatz „Herr Zinke, herzlichen Glückwunsch zur Goldmedaille“ nicht viel anfangen konnte. Warum auch? Ich hatte den Falschen angesprochen: Peter Adeberg, der in Albertville Rang fünf belegte. Eher mürrisch wies der andere Berliner auf die Verwechslung hin: „Ich bin nicht Herr Zinke, Herr Zinke steht dort drüben!“ Aha. Also begann die Annäherung an einen Olympiasieger, der als Außenseiter in das Departement Savoyen gereist war und dort seinen schönsten Tag auf der Eisbahn erlebte, mit einem Ausrutscher. „Herr Zinke“ bekam davon nichts mit und parlierte munter über sich und seinen olympischen Feiertag.
So viel zur olympischen Begegnung zweier Überraschter. Dass ich, bei den Winterspielen wegen meiner Eiskunstlauf-Expertise oft eingesetzt, im selben Jahr auch noch bei den flirrenden Sommerspielen von Barcelona dabei sein durfte, kam mir wie ein großes Geschenk vor, weil ich schon vier Jahre zuvor in Seoul das hochintensive Gefühl ausgekostet hatte, zwei völlig überdrehte, kräftezehrende Wochen zwischen schierer Begeisterung über eine Fülle großartiger Leistungen und blankem Entsetzen über den Jahrhundert-Doping-Sündenfall Ben Johnson erlebt zu haben. Immer an einem Ort und doch stets mobil und woanders zu sein, ständig auf der Suche nach Orientierung bei sonst weniger im Rampenlicht glänzenden Disziplinen wie dem Ringen oder dem Sportschießen zu bleiben und zwischendurch bei den olympischen Superstars vorbeischauen zu dürfen, das kam mir als olympischem Gelegenheitsbeobachter wie der Blick durch ein riesiges Kaleidoskop vor.
Andererseits habe ich dann auch schnell gewusst, dass es für mich als journalistischen Flaneur entlang der olympischen Schaubühnen und Marktplätze nicht zuerst darum ging, immer mehr Knowhow über die Sportart X oder Y anzusammeln. Wichtiger war das Gespür für die Haupt- und Nebendarsteller der gigantischen Show und für das olympische Flair, das die einzelnen Wettbewerbe überstrahlte. Die südkoreanische Hauptstadt Seoul, nur fünfzig Kilometer entfernt von den koreanischen Brüdern aus Nordkorea, das damals die Spiele boykottierte und ähnlich bizarr-stalinistisch anmutete wie heute, nutzte ihre olympische Premiere vor allem dazu, um der Welt des Sports ein guter und auf alles präzise vorbereiteter Gastgeber zu sein. Seoul funktionierte.
Das zur Feier der Spiele um einen pittoresken Stadtstrand bereicherte und auf den genuinen Reiz dieser mediterranen Kapitale setzende Barcelona machte dagegen vier Jahre später aus der einmaligen Gelegenheit ein katalanisches Weltfest, das pure Lebensfreude und mediterranen Genuss an zwei Partywochen im Zeichen des Spitzensports verströmte. Die Stadt, die sich als Kontrapunkt zur spanischen Hauptstadt Madrid versteht, blühte, lebte und bebte rund um die Uhr, während Seoul und die dort versammelten Olympier zwischenzeitlich vom Skandal um den anabolaufgepeppten Sprinter Johnson erschüttert schienen. Barcelona dagegen verdiente sich an jedem seiner sonnigen Festtage eine Goldmedaille ob seines chronischen Stimmungshochs, das Menschen und Athleten auf dem gemeinsamen Weg auf einer Rolltreppe hoch zum Wettkampfolymp, dem Hausberg Montjuïc, mit seinen vielen Wettkampfstätten vom Olympiastadion zum Palau Sant Jordi, auskosteten. Dort fühlte auch ich mich in einem olympischen Flow: unermüdlich unternehmungslustig.
Beim Turnen, vor 28 Jahren noch eine der von mir begleiteten Kernsportarten, war ich zwar wie zu Hause, als ich den von sechs Goldmedaillen gesäumten Triumphzug des Weißrussen Witali Scherbo mit erkennbarer Begeisterung beschrieb. Fast wohler jedoch fühlte ich mich bei Sportarten, die ich bis dahin noch nie von nahem beobachtet hatte. Beim Fechten zum Beispiel, einem besonders raffinierten sportlichen Waffenkampfduell zwischen Attaque und Riposte, die ich am Fernseher nie und an der olympischen Planche nur schwer ergründen konnte. Wer da getroffen hatte oder schwer getroffen wurde, war für mich nur an den Lichtern zu sehen, die im Fall des Falles aufleuchteten. Was ich aber in Barcelona mitbekam, wo die deutschen Florettdamen die Goldmedaille durch eine 6:9-Finalniederlage gegen Italien verpassten, waren die auch jenseits der sportlichen Kampfbahn hörbaren Sticheleien zwischen der nach ihrer Mutterschaft gerade noch rechtzeitig zurückgekehrten Anja Fichtel-Mauritz, der zweifachen Olympiasiegerin von Seoul, und ihren Mitstreiterinnen, unter denen die Tauberbischofsheimerin Zita Funkenhauser eine besonders spitze Zunge hatte. Als fast alle Reporter nach dem Wettkampf den Star Anja Fichtel-Mauritz umlagerten, zischte Zita Funkenhauser: „Sollen sie doch alle zu ihr gehen. Ich werde auch mal Mutter. Aber knapp nach den Olympischen Spielen.“
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Eine deutsche Silbermedaillengewinnerin bei den Seouler Sommerspielen vier Jahre zuvor ging mit ihren Erfolgserlebnissen ohne große Worte ziemlich still um: die Radrennfahrerin Jutta Niehaus. Die Pedaleurin, die völlig überraschend Zweite im Straßenrennen wurde, erfüllte so gar nicht das Klischee der vom eigenen Triumph überrumpelten Medaillengewinnerin. „Ich komme mir vor wie nach einem normalen Rennen“, kommentierte die Rheinländerin ihren größten Tag als Sportlerin, als wäre sie bei einem Kriterium irgendwo in Deutschland Zweite geworden. Der Versuchung, Jutta Niehaus zu etwas mehr Begeisterung zu verhelfen, widerstand ich in jenen Momenten zum Glück. Reporter sollten den Respekt aufbringen, Athletinnen und Athleten auf der Suche nach dem eigenen Glücksgefühl bei sich selbst zu lassen.
Wie hell eine Bronzemedaille leuchten kann, erlebte ich in der Kabine der Olympiamannschaft des Deutschen Fußball-Bundes mit. Sie schaffte es 1988 als einzige aus der Bundesrepublik Deutschland, dank des 3:0-Sieges über Italien im Spiel um Platz drei, den Traum von Olympia zu einer Abenteuerreise mit Gewinn zu machen. Beseelt vom olympischen Geist und an den letzten Tagen beflügelt vom ganz besonderen Spirit des Olympischen Dorfs, genossen die zwei Jahre später als Weltmeister gefeierten Bundesligastars Frank Mill, Jürgen Klinsmann, Thomas Häßler und Karl-Heinz Riedle im Kreise ihrer Mannschaftskameraden ein Gemeinschaftsgefühl, das sie 1990 in noch intensiverer Weise beim Weltmeisterschaftstriumph in Italien umhüllte. Mill, der damals Kapitän der von Hannes Löhr trainierten Olympia-Auswahl war, schwärmt heute noch von zwei unvergesslichen Wochen in Südkorea. „Diese Eindrücke vergisst du nicht“, sagt er beim Blick zurück auf seine einprägsame olympische Episode.
Und so ergeht es auch olympischen Zeitungsreportern, die in ihrem steten Drang und Eifer zu einem Teil der olympischen Bewegung werden, mögen sie auch hier und da auf dem rastlosen Weg zwischen Nähe und Distanz zu den Protagonisten an ihre eigenen Grenzen stoßen und Sieger mit Besiegten verwechseln. Egal. Sie waren dabei und haben zu spüren bekommen, dass sie sich dem ganz besonderen Reiz dieses größten und atmosphärisch dichtesten Sportfest der Welt nicht entziehen können. Warum auch?
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.07.2020, Nr. 170, S. 28
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Tokio 1964
„Ich muss, muss, muss!“
Willi Holdorf war der erste deutsche Olympiasieger im Zehnkampf. Sein Zusammenbruch nach dem 1500-Meter-Lauf 1964 in Tokio ist legendär geblieben.
Von Hartmut Scherzer
Wie betrunken torkelt Willi Holdorf auf den letzten zehn Metern. Der „Sterbende“, so die dramatische Metapher des französischen Journalisten Edouard Seidler in seiner preisgekrönten Reportage über die Olympischen Spiele 1964 in Tokio, taumelt quer über die Aschenbahn. Der wie ums Überleben kämpfende deutsche Athlet erreicht die Ziellinie hart an der Balustrade. Dann bricht er zusammen.
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