1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 Nachdem Benjamin aufgestanden war und die Stereoanlage eingeschaltet, ein Bier geöffnet, die Zeitung durchblättert, gerülpst und sich unter die Dusche gestellt hatte, machte Stella Tee für sich und ihn. Zum Frühstück nur Tee war die erste Regel des Tages. Kein Toast dazu – davon wurde man dick. Manchmal machte sich Benjamin zwar ein Brot, doch fragte er Stella nie, ob sie auch eins wolle, und niemals ergriff sie selbst die Initiative, während er zusah. Sie sprachen nicht viel beim Frühstück. Benjamins Laune war vor drei Uhr nachmittags selten gut.
Die Musik dröhnte durch die Wohnung. Stella ging ins Bad, duschte und zog sich an. Sie war dünner, als sie während ihres ganzen erwachsenen Lebens gewesen war, und die Sachen hingen an ihr herunter wie an einem unterernährten Pariser Model. Als sie fertig angezogen war, nahm sie Kalender, Portemonnaie und Tasche und küßte Benjamin auf die Stirn, bevor sie ging. Er brummte zur Antwort, umfaßte sie leicht, ohne von der Zeitung aufzusehen.
»Ich komme gegen sieben nach Hause. Bist du heut abend da?« fragte Stella.
Benjamin schaute auf.
»Weiß nicht. Mal sehen. Hab noch nichts festgemacht.«
Stella nickte. Sie nahm ihre Tasche und ging, und erst als sie unten auf der Straße war, konnte sie richtig durchatmen. Ein und aus, die herrliche, frische Morgenluft. Von Luft wurde man nicht fett. Und hier sah sie keiner, sah, wie sie die Lungen mit Luft füllte und Brust und Bauch richtig rausstreckte, weit, weit raus, ehe sie die Luft ausatmete und wieder zusammenfiel.
In ihrem Kopf surrte eine Textzeile herum wie eine lästige Fliege, sie ließ sich nieder, flog auf und setzte sich wieder zur Ruhe. Als sie bei Rot über die Straße ging, flog sie blitzschnell auf und war wieder zur Stelle.
»... cause if you can’t let yourself go
what are you saving yourself for?«
Die Zeile hallte in ihrem Kopf wider.
Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, aus welchem Song sie war.
Als Stella klein war, wohnte sie mit ihren Eltern und ihrer größeren Schwester in einer alten Villa in Täby. Dem äußeren Anschein nach hatte die Familie keine Probleme, im Gegenteil, und Stella wuchs von früh an umgeben von den Kindern der Verwandten und Freunde ihrer Eltern auf. Ziemlich bald sagte man ihr nach, recht schwierig zu sein. Sie sei eingebildet und eigensinnig, schlage den Mädchen die Barbiepuppen auf den Kopf, wenn ihr nicht passe, was sie sagten oder taten, und war beim Bäumeklettern und Toben im Garten wilder als die Jungen. War Stella dabei, gab es fast immer Streit. Manche Familien fingen an, sie von sich fernzuhalten.
Stella war früh entwickelt, in jeder Beziehung. Schon mit zwölf hatte sie einen Freund. Zur gleichen Zeit wurde es in der Gegend üblich, Haschisch zu rauchen, wenn die Eltern weg waren und ihre Kinder Partys feierten. Stellas Eltern begriffen, daß sie etwas tun mußten. Sie überlegten hin und her, entschieden dann aber ziemlich rasch, daß ein Internat die beste Alternative sei, um mit Stellas Problemen zurechtzukommen. Am besten weit weg von der alten Clique, bis sie etwas älter war und selbst entscheiden konnte, was sie wirklich wollte.
Noch immer sprach man nur von »Stellas Problemen«, nie von denen »der Familie«. Nicht mit einer Silbe deuteten die Eltern an, daß sie vielleicht selbst Schwierigkeiten hatten.
Stella wurde unter großem Protest nach Lundsberg gebracht. Dort angekommen, verfrachtete man sie in die siebente Klasse, als beinahe Jüngste ihres Schülerheims, und ihre Zigaretten wurden so gut wie sofort beschlagnahmt. Stella sperrte sich wochenlang, entdeckte jedoch auch gegen ihren Willen, daß es gewisse Vorteile gab, im Internat zu leben. Es gab zum Beispiel nur eine Heimleiterin pro Haus, während zwischen 25 und 45 Schüler dort wohnten. Die Voraussetzungen, irgendwelchen Unfug zu verzapfen, ohne überführt zu werden, waren also bedeutend besser als zu Hause in der Familie, wo das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen 2:2 war und ständig die Gefahr drohte, erwischt zu werden.
Der andere offensichtliche Vorteil bestand darin, daß die Internatskinder für ihr Alter bedeutend weniger ausgefuchst waren als Stellas Kumpels in Täby, sie konnte sich also recht bald an die Spitze der Jüngeren setzen. Außerdem – und das war Stellas tief gewahrtes Geheimnis – war es ihr ganz angenehm, jetzt nicht noch mehr hinter sich bringen zu müssen. Sie hatte rauchen gelernt, war betrunken gewesen und hatte schon vor ihrem dreizehnten Geburtstag mächtig mit zwei Jungen rumgefummelt, und auch wenn sie lieber gestorben wäre als das zuzugeben, so war Stella doch ziemlich froh, daß sie in der rasend schnellen Entwicklung, die sie zu der ihren gemacht hatte, eine Pause einlegen konnte.
Um so größer war der Schock, als sie plötzlich erfuhr, was zu Hause passierte.
Allzuspät hatten die Eltern begriffen, welche Konsequenzen es hatte, den »Problemherd« von zu Hause zu entfernen. Als Stellas ältere Schwester zur gleichen Zeit auszog, war auf einmal Platz für ihre eigenen ungelösten Konflikte, die sich rasch in vollem Licht zeigten. Kein Problemkind war mehr zur Stelle, das sie verbinden konnte, und die Katastrophe war ganz schnell eine Tatsache.
Es begann damit, daß Stellas Vater nach Lundsberg kam und sagte, er werde nach Deutschland ziehen. Er nahm Stella mit auf eine Fahrt in seinem neuen Mercedes Benz Blue Metallic. Sie kurvten auf den holprigen kleinen Waldwegen umher, und er schien das Auto überhaupt nicht mehr stoppen zu wollen. Stella schlug vor auszusteigen, doch ihr Vater sagte, er ziehe es vor zu fahren – es gäbe doch viel Schönes in den Wäldern Värmlands zu entdecken. Stella hatte das Gefühl, er wage es nicht anzuhalten, so als wolle er nicht riskieren, zurückgehalten oder in eine Szene hineingezogen zu werden, die vielleicht mehr Zärtlichkeit von ihm verlangte, als er zu geben vermochte.
Dann kam es: Papa und Mama würden sich scheiden lassen.
Stella hörte zu. Papa könne nicht mehr, sagte er. Er sei gezwungen, Abstand zu Mama und dem ganzen »Theater«, wie er es nannte, zu bekommen. Mama gehe es nicht gut und ihm auch nicht, sagte er. Er würde zurückkommen, wenn es ihm besser ginge, allerspätestens zum Sommer hin.
Stella hörte zu. Er fragte, ob sie etwas wissen wolle, aber sie schüttelte nur den Kopf. Ihr fiel überhaupt nichts ein, was sie hätte sagen können.
Jedenfalls in dem Moment nicht.
Als der Sommer kam, war ihr Vater noch weiter weg, nach Hongkong gezogen.
Konserven waren es, mit denen sich ihre Mutter umgeben hatte, als Stella an einem ihrer Heimfahrtswochenenden nach Hause kam. Konservenbüchsen standen in der Küche, auf dem Dielentisch und den ganzen Weg bis ins Schlafzimmer hoch. Manche waren geöffnet und leer; einige waren noch halbgefüllt mit ihrem jetzt schimmligen Inhalt, andere noch ungeöffnet. Bei ein paar Büchsen hatte sie offensichtlich versucht, sie aufzubekommen, aber es war ihr nicht gelungen. Einige hatte sie in einem Wutanfall in der schönen Diele herumgeschmissen. Das Glas von Großvaters Porträt war zerschlagen, ebenso die Graal-Vase, die immer auf dem Tischchen neben dem Sofa in der Diele gestanden hatte. Sie lag jetzt in tausend Stücken, zum Teil auf dem Sofa, zum Teil auf dem Boden.
Im Schlafzimmer lag Stellas Mutter, auch sie in tausend Stücken, obwohl es ihr von außen nicht anzusehen war. Sie blickte Stella unter halbgeschlossenen Lidern an, und ihr Mund verzerrte sich zu etwas, das ein Lächeln sein sollte. Stella stand in der Türöffnung, ihren Rucksack neben sich, gesund und mit roten Wangen trotz des Gestanks und der vielen Scherben überall.
»Willkommen zu Hause, meine Kleine«, sagte ihre Mutter heiser. »Willkommen zu Hause. Leider habe ich eine Magen-Darm-Grippe, aber das geht schon vorüber.«
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