Im Gegensatz dazu zeigte Lévi-Strauss wenig politisches Engagement und hatte auch nie Zugang zum Präsidenten. Aber auch er schildert 1955 in seinem Buch „Traurige Tropen“ die Turbulenzen der 1930er Jahre des 20. Jahrhunderts, die ein europäischer Jude umschiffen musste, um nach Brasilien zu kommen. Zudem gesteht er, zunächst eine sehr verklärte und romantische Vorstellung von Brasilien gehabt zu haben. So trat er eine Stelle als Lehrbeauftragter an der Universität São Paulo an, in dem Glauben, an den Wochenenden in die Vororte fahren zu können, um Indianerstämme zu erforschen. Das erwies sich als Irrtum, denn São Paulo war schon damals eine Metropole, und die nächsten Indianerdörfer befanden sich mehrere Tagesreisen entfernt.
Lévi-Strauss konnte aber Mittel auftreiben, um eine monatelange Forschungsreise ins Innere Brasiliens zu organisieren. Das Ergebnis wurde unter dem bereits genannten Titel „Traurige Tropen“ in französischer Sprache veröffentlicht und gilt heute als Klassiker der anthropologischen Literatur. Detailliert stellt er vier verschiedene Indianervölker vor und beschreibt, wie unterschiedlich deren Kulturen sind. Schon der Titel des Buches signalisiert, dass der Autor vom Untergang dieser Kulturen überzeugt ist und ihnen nachtrauert.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Traurige Tropen“ hatte sich die öffentliche Wahrnehmung in Brasilien geändert. Man war inzwischen stolz auf seine sogenannte Rassendemokratie, in der angeblich alle Bürger unabhängig von der Hautfarbe den gleichen Zugang zu Bildung, Gesundheitswesen und Kultur haben. Trotzdem erfuhr Lévi-Strauss’ Buch zunächst wenig Aufmerksamkeit unter urbanen Gruppen, die Brasilien als modernes und zukunftsorientiertes Land definierten. Für sie waren im Urwald lebende Indianer weiterhin ein Symbol der rückständigen Teile des Landes.
Heute gehört Brasilien zu den wichtigsten Wirtschaftsnationen der Welt. Gemeinsam mit Russland, Indien und China bildet man die BRIC-Gruppe der neuen ökonomischen Mächte. Die heimische Wirtschaft exportiert in erster Linie Metallwaren, Erdölprodukte und Agrarerzeugnisse wie Soja und Fleisch. Brasilien hat ein ausgeprägtes und starkes kulturelles Leben mit international bekannten Schriftstellern (Machado de Assis, Paulo Coelho), Musikern (Caetano Veloso, Ivete Sangalo), bildenden Künstlern (Hélio Oiticica, Vik Muniz), Architekten (Oscar Niemeyer) und Kinoregisseuren (Fernando Meirelles – City of God, José Padilha – Tropa de Elite). Zu den bekanntesten Persönlichkeiten des Landes zählen neben den schon genannten Pelé und Lula auch Sozialwissenschaftler wie Paulo Freire, Gilberto Freyre und Roberto DaMatta.
Mit seinen 8.500.000 km² ist Brasilien etwa 24-mal so groß wie Deutschland. Es gibt immense regionale Unterschiede in Fauna und Flora, Küche, Aussprache des Portugiesischen und Kultur. Im Allgemeinen wird Brasilien in fünf Makroregionen geteilt.
Die Nordregion umfasst die sieben Bundesländer des Amazonas-Regenwaldes. Es handelt sich um den Bereich mit der niedrigsten Bevölkerungsdichte; die Fortbewegung kann oft nur auf dem Wasser- oder Luftweg bewältigt werden. Ein Großteil der hier lebenden Menschen hat eine indianische Physiognomie. Typisch für die regionale Küche sind tropische Früchte mit wohlklingenden indianischen Namen wie Açai und Cupuaçu, Süßwasserfische aus dem Amazonas und die gelbliche, saure Manioksauce Tucupi. Die Region ist bei der WM 2014 durch Manaus, die Hauptstadt des Bundeslandes Amazonas, vertreten.
Der Mittelwesten wird bei der WM durch die Bundeshauptstadt Brasilia und seine futuristische Architektur repräsentiert. Die Landeshauptstadt wurde in den 1950er Jahren von Rio de Janeiro nach Brasilia verlegt, um der dortigen Infrastruktur auf die Beine zu helfen. Die drei Bundesländer des Mittelwestens haben große Bedeutung durch ihre riesigen Weidelandschaften und Sojaplantagen, die in der lokalen Steppe ideale Bedingungen finden. Cuiabá wurde nach Brasilia als zweiter WM-Standort der Region ausgewählt, um das dortige Feuchtgebiet Pantanal und seine Artenvielfalt touristisch zu erschließen. Die kulinarischen Spezialitäten konzentrieren sich auf Süßwasserfische, Wild und Backwaren.
Der Nordosten ist eine der bevölkerungsreichsten Regionen, die schon vor Längerem vom Tourismus entdeckt wurde. Namentlich die WM-Städte Salvador, Recife, Natal und Fortaleza sind für ihre Strände berühmt. Die Steppen des Hinterlandes indes werden regelmäßig von Dürreperioden geplagt. Regionale Spezialitäten sind getrocknetes Fleisch mit Maniok und Kürbis. Im Gegensatz dazu findet man in den Küstenstädten die besten Seefrucht- und Meeresfischgerichte des Landes. Salvador in Bahia ist bekannt für seine großen afrikanischen Einflüsse in der Küche, in der Musik und beim Tanz.
Am berühmtesten dürften die drei südöstlichen WM-Städte Rio de Janeiro, São Paulo und Belo Horizonte sein. Es handelt sich um die wirtschaftlichen Zentren des Landes. Während die ehemalige Hauptstadt Rio de Janeiro mit ihren Stränden und dem Regenwald ein Touristenparadies ist, überrascht die industrielle Megametropole São Paulo als Betonwüste mit intensivem kulturellen Leben. Hier kamen Anfang des 20. Jahrhunderts Millionen Migranten aus Europa, Japan und arabischen Ländern an. Die verschiedenen Gruppen übten allesamt Einfluss auf die regionale Küche aus, wobei Steak mit Reis und Bohnen am beliebtesten ist. Belo Horizonte ist berühmt für seine deftigen Eintöpfe.
Schließlich wurden mit Porto Alegre und Curitiba zwei Städte aus dem gut erschlossenen Süden als WM-Spielstätten ausgewählt. Nachfahren von Migranten aus Italien und dem deutschsprachigen Raum prägen hier das Straßenbild. Das Klima ist vergleichbar mit dem Italiens, und während der WM, die im brasilianischen Winter stattfindet, kann es durchaus kalt werden. Die kulturellen Einflüsse des Nachbarn Argentinien sind unübersehbar, und so nennen sich die Einwohner des südlichsten Bundeslandes Rio Grande do Sul auch „Gaúchos“, trinken Mate und sind berühmt für ihre Grillspezialitäten. Namentlich der deutsche Einfluss treibt im Süden Brasiliens manchmal interessante Blüten, die von Europa aus gesehen kurios anmuten.
Da es unmöglich ist, Brasilien in all seinen Einzelheiten vorzustellen, müssen zwangsläufig Schwerpunkte gesetzt werden. Ich möchte daher einige geschichtliche Entwicklungen des Landes nachzeichnen und dabei ein besonderes Augenmerk auf die Verbindungen zu Deutschland legen. Unter diesem Aspekt ist vor allem das Bundesland Rio Grande do Sul an der Grenze zu Uruguay und Argentinien interessant. Begeben wir uns also auf eine kleine Zeitreise zu den Anfängen der europäischen Besiedlung dieser Region.
Ein deutscher Fußballmissionar
BRASILIENS FUSSBALLWURZELN LIEGEN IN RIO GRANDE UND HABEN DEUTSCHEN URSPRUNG.
Seit Stunden schon ziehen weite, flache Weidefelder am Busfenster vorbei. Kühe und Pferde muten wie gesprenkelte Farbkleckse auf dem auslaufenden Gelbgrün der südbrasilianischen Pampa an. Nur hin und wieder wird dieses Bild von vereinzelten Bauminseln unterbrochen. Nicht tropischer Regenwald, sondern europäisch erscheinende Nadelbäume prägen das Landschaftsbild. Zwischen ihnen stehen einige Mandarinenbäume, die jetzt im Juli volle Frucht tragen und so mit lustigen orangenen Punkten Farbakzente setzen. Die Natur erinnert eher an Norditalien oder die ungarische Puszta.
Auf Spurensuche in Rio Grande do Sul
Ich habe mich auf eine fast archäologische Suche begeben. Ich will die Anfänge des brasilianischen Fußballs ausgraben. Wie allgemein bekannt ist, wurde dieser heute so urbrasilianisch anmutende Sport von den Engländern erfunden. Doch wann hat man in Brasilien zum ersten Mal gegen den Ball getreten? Um diese Frage zu klären, muss ich mich in den äußersten Süden des Landes begeben. Ganz in der Nähe Uruguays im Bundesstaat Rio Grande do Sul liegt die kleine Hafenstadt Rio Grande mit knapp 200.000 Einwohnern. Von der Landeshauptstadt Porto Alegre sind es fast fünf Stunden Busfahrt. Rio Grandes Sport Club, ein von Deutschen gegründeter Fußballverein, gilt als der älteste aktive seiner Art in Brasilien. Was hat ausgerechnet Deutsche gegen Ende des 19. Jahrhundert in dieses abgelegene Städtchen getrieben? Und wie war es möglich, dass sie einen Fußballklub gründeten? Bisher hatte ich immer gedacht, Engländer seien die Fußballmissionare gewesen.
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