Lone versuchte ein bißchen zu lächeln. „Nee, ich soll nur zeitig genug zu Hause sein, um Essen kochen zu können, bis Vater heimkommt.“
„Essen kochen?“ Gutsbesitzer Winge sah sie erstaunt an. „Kochst du denn das Essen selbst?“
„Ja, das heißt, wenn Frau Hansen krank ist.“
„Donnerwetter. Das ist wirklich allerhand. Setz dich zu mir in den Wagen, wir fahren zusammen zu einem der großen Warenhäuser. Ich muß sowieso hin, und sicher können wir dort ein neues Kleid für dich finden. Du darfst es dir sogar selbst aussuchen.“ Und als Lone schwieg, fuhr er fort: „Ich werde dich schon wieder nach Hause fahren lassen.“
„Das ist nicht nötig“, artwortete Lone. „Ich habe bloß Angst, daß ich die feinen Sitze schmutzig mache. Mein Kleid ist so naß und voller Spritzer.“
„Mach dir darüber keine Sorgen“, lächelte der Gutsbesitzer und schob sie vorsichtig in den Wagen. „Halten Sie bitte beim ersten Gemüsegeschäft“, sagte er zum Chauffeur, „und dann fahren wir zum Kaufhaus.“
„Jawohl!“ Der Chauffeur führte die Hand an die Mütze und warf die Tür zu. Einen Augenblick später glitt der lange, schwarze Wagen lautlos dahin, dem Zentrum entgegen.
Nicht einmal im Traum hatte Lone daran gedacht, daß sie einmal in so einem feinen Auto fahren würde. Das war ja beinahe, als flöge man durch die Straßen und zwischen anderen Wagen, Menschen und Straßenbahnen hindurch.
Jetzt bremste der Chauffeur, öffnete den Wagenschlag, und Lone ging mit Gutsbesitzer Winge in das große Kaufhaus. Sie war schon früher dort gewesen, aber immer nur zur Weihnachtszeit, wenn sie die prachtvolle Weihnachtsausstellung ansehen ging. Heute war es doch etwas ganz anderes, da sie ein neues Kleid bekommen sollte.
Mit dem Fahrstuhl fuhren sie in die zweite Etage hinauf, wo ihnen eine freundliche Dame entgegenkam.
„Ich möchte gern ein hübsches Sommerkleid für dieses kleine Fräulein“, sagte Gutsbesitzer Winge mit einem Lächeln. „Sie soll selbst wählen, aber vielleicht könnten Sie ihr dabei behilflich sein. Ich komme dann bald und hole sie.“
Das ist beinahe so, wie man es in den Büchern liest, dachte Lone, als die freundliche Dame sie zu einem großen Gestell führte, an dem viele herrliche Sommerkleider hingen. Schnell wählte sie drei, vier Stück aus. Wie sollte sie sich bloß entschließen können; es war fast unmöglich.
„So, jetzt gehen wir dort hinüber, dort kannst du sie anziehen“, sagte die Verkäuferin und begleitete Lone in ein kleines Anprobierzimmer mit großen Spiegeln.
Als Lone alle Kleider durchprobiert hatte, entschied sie sich schließlich für das rote mit den weißen Punkten und dem kleinen, weißen Kragen. Das war das hübscheste. Gutsbesitzer Winge, der kurz darauf zurückkam, hätte sie beinahe nicht erkannt, so reizend sah sie aus.
„Oh, das steht dir großartig“, platzte er heraus und freute sich über Lones begeistertes Gesicht. „Du mußt es gleich anbehalten; wir bitten das Fräulein, das alte Kleid für dich einzupacken. Ob wir uns nicht lieber auch gleich nach ein Paar neuen Schuhen für dich umsehen? Die anderen sind so naß.“
Von der Kleiderabteilung ging es jetzt in die Schuhabteilung, wo Lone ein Paar flotte, feste Schuhe bekam; genau solche, wie sie sich immer so brennend gewünscht hatte.
„Ich finde, Lone, bevor wir uns nun verabschieden, sollten wir noch in ein Restaurant gehen und zusammen Kaffee trinken“, schlug Gutsbesitzer Winge vor. „Nach dieser langen Fahrt habe ich eine kleine Stärkung nötig. Ich komme nämlich von Fünen, weißt du. Hinterher kann der Chauffeur dich dann nach Hause fahren, während ich mich im Hotel umziehe. Heute abend bin ich nämlich zu einer Gesellschaft eingeladen, ein Vetter von mir feiert seinen fünfzigsten Geburtstag.“
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in die oberste Etage, wo ein Restaurant lag, und fanden einen kleinen Tisch am Fenster. „Wieviel kannst du essen?“
Lone wählte bescheiden einen Pfannkuchen, doch Herr Winge legte noch zwei Stück Kuchen auf ihren Teller, und einen Augenblick später kam das Servierfräulein mit dem Kaffee.
„Na, jetzt hast du wohl bald Sommerferien, Lone. Wo wirst du sie zubringen?“
Lone, die gerade mit einem großen Stück Sahnekuchen beschäftigt war, antwortete ausweichend, das wisse sie nicht recht, denn sie habe niemanden, den sie besuchen könnte.
„Wir können es uns nicht leisten, zu verreisen, und außerdem kriegt Vater erst im September Urlaub, falls er überhaupt welchen bekommt.“ Lone blickte vor sich hin. „Ich kann auch nicht gut von zu Hause weg, wenn Vater nicht frei hat“, fuhr sie zögernd fort, „denn seit Mutter starb, wohne ich allein mit dem Vater zusammen. Irgend jemand muß doch richtig für ihn sorgen.“
„Ja aber, was war das für eine Frau Hansen, von der du vorhin sprachst? Kommt sie nicht jeden Tag und hilft euch?“ Voller Mitgefühl sah der Gutsbesitzer das kleine, schmächtige Mädchen an, das vor ihm saß. Er konnte nicht umhin, es mit seiner Tochter Kirsten zu vergleichen, die im gleichen Alter war und auf dem großen Hof ein glückliches und sorgloses Dasein führte.
„Doch“, sagte Lone eifrig, „Frau Hansen kommt beinahe jeden Tag und kocht für uns und macht hin und wieder sauber, aber sonst sorge ich für Vater und mich. Mutter lehrte mich, abzuwaschen und Ordnung zu halten, und Frau Hansen zeigte mir, wie man Strümpfe wäscht und stopft. Ich kann auch unsere Wäsche reparieren.“
„Alle Achtung, du bist wirklich ein tüchtiges Mädchen“, sagte Herr Winge und dachte an seine eigene Tochter. Er stellte sich vor, wie sie sich verhalten würde, mit solcher Verantwortung und solchen Pflichten beladen. „Sag mal, Lone, bist du schon mal richtig auf dem Lande gewesen?“
„Nein, noch nie. Ich habe wohl meine Tante in Ringsted besucht, aber die wohnt in genauso einer Straße wie wir. Als ich ganz klein war und Vater sein Geschäft noch hatte, waren Mutter und ich jeden Sommer auf dem Land. Aber daran kann ich mich nicht mehr richtig erinnern.“ Lone fühlte sich so sicher und froh in Winges Gesellschaft, daß sie immer gesprächiger wurde.
„Du sagtest doch, dein Vater sei Buchhalter“, warf der Gutsbesitzer ein.
„Ja, das ist er auch“, antwortete Lone. „Aber ehe er Buchhalter wurde, hatte er ein eigenes Kolonialwarengeschäft.“
„Warum mußte er das denn aufgeben?“
„Weil direkt daneben ein großes neues Geschäft eröffnet wurde. Vater sagt, es lag daran, daß das neue Geschäft viel moderner war, und deshalb gingen die Kunden dorthin, anstatt bei uns zu kaufen.“
„Ja, aber konnte dein Vater denn sein Geschäft nicht auch modernisieren?“ fragte der Gutsbesitzer interessiert.
„Nein“, antwortete Lone altklug. „Dann hätte das ganze Haus umgebaut werden müssen. Der Laden von Kaufmann Andersen war nämlich ganz neu, mit großen Schaufenstern und all so was.“
„Kaufmann Andersen“, sagte der Mann nachdenklich. „Wo liegt sein Geschäft?“
„Direkt neben dem Haus, in dem wir wohnen“, klärte Lone ihn auf.
„Hm, dann ist es ja wahrhaftig derselbe Andersen, den ich heute abend besuchen soll. Er ist mein Vetter. Das war wirklich ein spaßiger Zufall.“
Da trat ein erschreckter Ausdruck in Lones große braune Augen. „Oh, wenn ich doch bloß nichts gesagt hätte“, stammelte sie.
„Das braucht dir nicht leid zu tun“, lächelte Herr Winge beruhigend. „Ich werde schon den Mund halten und nicht erzählen, daß wir beide miteinander gesprochen haben. — Du hast mir übrigens gar nicht verraten, wer die beiden Mädels waren, die dich auf die Straße stießen. Worüber habt ihr euch gestritten?“
Lone schwieg.
„Na“, sagte der Gutsbesitzer. „Ich sehe, daß du darüber nicht reden willst. Und das ist vielleicht auch gut so. Man soll nicht petzen. Aber sie verdienten eigentlich schon, daß ihre Eltern es erfahren würden. Du hättest ja ebensogut überfahren werden können. Tja, aber die Zeit läuft uns davon, Lone, wir müssen jetzt wohl sehen, daß wir weiterkommen, sonst verspäten wir uns beide.“
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