„Ich muss euch etwas erzählen, Freunde“, begann er. Filotti und Agostino schauten auf. Sie wirkten nicht wirklich überrascht, doch sie waren offensichtlich sehr gespannt.
„Gestern Abend, kurz nachdem wir unseren Herrn Jesus am Kreuz zur Seite geschoben und wir drei uns eigentlich schon voneinander verabschiedet hatten, kam Guido noch einmal zu mir. Er hat mich gefragt, was es kosten würde, das Kirchdach zu sanieren. Ich habe mir erst nichts dabei gedacht und ihm den Preis genannt, den ein fähiger Handwerker wohl nehmen würde. Und dann passierte ein Wunder. Der Herr in all seiner Güte hat in Guido wohl ein Instrument gefunden, uns Gutes zu tun. Denn Guido hat nicht lange überlegt. Er hat in seine Jackentasche gefasst, ein Bündel Geldscheine hervorgezogen und mir die nötige Summe in die Hand gedrückt.“
Pater Corello schaute in die Gesichter seiner Freunde. Deren Staunen war zwar nicht zu übersehen. Doch es war nicht die Art von Staunen, die er erwartet hatte. Kein Kommentar, kein Hallo, keine außergewöhnliche Freude über die großzügige Spende. Corello ahnte, dass da noch mehr war. Die beiden schwiegen.
„Habt ihr gar nichts dazu zu sagen?“, fragte Corello schließlich.
„Doch, doch“, stotterte Filotti. Er zögerte und wand sich sichtlich, erzählte aber schließlich doch vom gestrigen Tag. „Ich habe gesehen, wie Guido dir Geld gegeben hat“, sagte er leise.
Corello und Agostino sahen ihn an.
„Ja, und da bin ich zu ihm hingegangen und habe ihm erzählt, dass ich Probleme habe. Gestern ist der Motor meines Traktors kaputtgegangen. Und ich habe kein Geld, ihn zu reparieren. Ich habe Schulden. Auf meinem Hof lastet eine Hypothek. Da habe ich ihn gefragt, ob er mir vielleicht mit etwas Geld aushelfen könnte“, gestand Filotti.
Corello konnte es kaum fassen. „Und, hat er dir welches gegeben?“ fragte der Priester.
„Ja, er hat es mir nicht nur geliehen, sondern sogar geschenkt“, sagte Filotti.
„Das war aber sehr großzügig von Guido“, sagte Corello.
Er ärgerte sich über Filotti, war aber auch gleichzeitig bestürzt. Nicht nur, weil sein Freund ihn beobachtet hatte und direkt zu Guido hingegangen war, um ihn um Geld zu bitten, sondern weil er auch wusste, dass Filotti nicht nur wegen des Traktors in finanziellen Schwierigkeiten war. Dieser Tölpel hatte sich in eine angeblich außergewöhnlich begabte junge Sängerin in Florenz verliebt, deren Talent aber offensichtlich vor allem darin bestand, sich von Filotti großzügige Geschenke machen zu lassen. Man musste Filotti nicht unbedingt seine Naivität vorwerfen. Doch dass er sich so sehr in Schulden gestürzt hatte, war Corello bis jetzt nicht klar gewesen. Wie verzweifelt musste Filotti gewesen sein, dass er Guido um Geld gefragt hatte. Sein Blick wanderte zu Agostino. Der hielt sich an seinem leeren Glas fest und untersuchte offensichtlich intensiv dessen Verarbeitungsstruktur.
„Gibt es vielleicht etwas, was auch du uns erzählen möchtest?“, fragte Corello höflich nach.
„Ist das hier ein Beichtstuhl?“, entgegnete Agostino schroff.
„Nein, natürlich nicht. Erstens bist du nicht katholisch, zweitens sitzen wir hier in einer Trattoria, drittens hat man in einem Beichtstuhl selten weitere Zeugen wie beispielsweise Filotti hier neben sich. Und der ist noch nicht einmal Priester. Damit wären die formalen Fragen geklärt. Aber vielleicht gibt es ja trotzdem etwas, was du nicht einem Priester, sondern deinen Freunden erzählen willst“, setzte Corello nach.
Agostino schien einen Kratzer auf der Glasoberfläche gefunden zu haben und schabte mit dem Finger daran herum.
„Agostino?“, fragte Corello freundlich.
„Na gut“, setzte Agostino an. „Ich habe auch gesehen, wie Guido dir Geld gegeben hat. Dann habe ich gesehen, wie er Filotti Geld gegeben hat, und dann bin ich zu ihm hingegangen“, erzählte der Bürgermeister.
Filotti und Corello sahen ihn neugierig an.
„Schaut nicht so. Ich war in einer echten Notlage. Ich habe euch ja erzählt, dass in meinem Büro ein gewisser Oberst Briccone saß und Sonderabgaben für die Fußballweltmeisterschaft einziehen wollte. Außerdem hat er gedroht, uns in Zukunft Steuern zahlen zu lassen. Er hat nämlich herausgefunden, dass wir uns die vergangenen Jahre darum gedrückt haben“ erzählte Agostino.
„Piagnolia hat keine Steuern bezahlt?“, fragte Filotti erstaunt nach. Agostino verdrehte die Augen. „Nein, wir haben keine Steuern bezahlt. Ich habe immer dafür gesorgt, dass wir im Finanzministerium in Rom nicht auffallen. Es gibt uns quasi gar nicht. Auf der Steuerlandkarte Italiens existieren wir nicht. Und jetzt steht plötzlich ein uniformierter Sonderbeauftragter des Duce vor meiner Tür und will nicht nur Sonderabgaben eintreiben, sondern droht auch noch, dass er uns den Finanzbehörden melden will“, erzählte Agostino. „Briccone ist natürlich auch klar, dass wir die ausstehenden Beträge für die vergangenen Jahrzehnte niemals würden aufbringen können“, ergänzte der Bürgermeister.
„Jahrzehnte?“, fragte Filotti.
„Naja, dieser Briccone scheint es faustdick hinter den Ohren zu haben. Er hat mir zu verstehen gegeben, dass er gegen eine persönliche Sonderzahlung ohne Quittungsbeleg darüber hinwegsehen würde, das Finanzamt auf die zu fordernde Steuernachzahlung aufmerksam zu machen.“
„Das ist Erpressung und Aufforderung zur Bestechung“, empörte sich Corello.
„Bist du erstaunt? Das ganze Land funktioniert so. Und jetzt tu bloß nicht so, als ob die Kirche davon frei wäre“, entgegnete Agostino und ignorierte Corellos bösen Blick. „Jedenfalls war ich ganz schön in der Klemme. Und als ich gesehen habe, wie Guido einfach so die Lire-Scheine verteilt hat, habe ich mir gedacht, ich könnte ihn auch mal fragen, ob er die Gemeinde in der Not unterstützen will.“
„Und? Wollte er?“, fragten Corello und Filotti fast im Duett. „Guido kennt diesen Oberst Briccone offensichtlich. Als ich den Namen genannt habe, ist er ganz bleich geworden. Da habe ich mir gedacht, ich erzähle ihm vielleicht, dass der Oberst nach ihm gefragt hätte.“
„Der Oberst sucht nach Guido?“, fragte Corello.
„Nein, davon hat er nichts gesagt. Aber es ist ja offensichtlich, dass Guido irgendwelche Geheimnisse hat. Und da dachte ich, wenn Guido glaubt, dass ein italienischer Offizier hinter ihm her ist, gibt er mir vielleicht noch lieber das benötigte Geld, damit ich den Oberst bezahlen kann und er schnell wieder aus Piagnolia verschwindet.“
„Du hast Guido angelogen“, sagte Pater Corello.
„Ja.“
„Hat er dir Geld gegeben?“
„Ja.“
„Du hast damit den Oberst bestochen?“
„Ja.“
Corello seufzte tief und sah Bürgermeister Agostino streng an. „Findest du nicht auch, dass du das dringend irgendwie in Ordnung bringen solltest“, sagte er und legte seine Hand auf Agostinos Schulter. Der nickte stumm. Corello überlegte kurz und dachte über die Frage nach, die bislang noch keiner ausgesprochen hatte. Und doch musste sie allen drei Männern unter den Nägeln brennen. Woher hatte Guido so viel Geld? Hatte er es verdient, beim Wetten gewonnen oder sogar gestohlen? Auf jeden Fall sollten Filotti, Agostino und er ihr Wissen erst einmal für sich behalten. Denn wenn sich herumsprach, dass Guido jedem, der danach fragte, Geld schenkte, würde er sich vor Anfragen kaum noch retten können. Corello wollte erst einmal unter vier Augen mit Guido darüber reden.
„Filotti, Agostino“, setzte er an, „wir sollten das, was wir da gestern …“
Fabio, der Wirt der kleinen Trattoria, trat in diesem Augenblick an den Tisch. Er hatte sich die Szene, die sich da abspielte, eine Weile angesehen. Selten sprachen Männer in seiner Trattoria so leise. Das war sehr, sehr ungewöhnlich und machte ihn neugierig. „Sagt mal, so habe ich euch ja noch nie erlebt. Schmeckt euch mein Wein nicht?“, fragte er.
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