Diederich inzwischen hatte Zeichen hoher Erregung von sich gegeben. „Oh!... Ah!... Aber das ist –.“ Er war ganz bleich; er setzte an: „Meine Herren ... Meine Herren, ich bin in der Lage –. Ich kenne diese Leute: jawohl, den Mann und das Mädchen. Doktor Heßling mein Name. Beide waren bis heute in meiner Fabrik beschäftigt. Ich mußte sie entlassen wegen öffentlich begangener unsittlicher Handlungen.“
„Aha!“ machte Jadassohn. Pastor Zillich rührte sich. „Das ist fürwahr der Finger Gottes“, sagte er. Der Fabrikant Lauer hatte sich in seinem grauen Spitzbart heftig gerötet, seine gedrungene Gestalt ward geschüttelt vom Zorn.
„Über den Finger Gottes läßt sich streiten. Sicher scheint nur, Herr Doktor Heßling, daß der Mann sich zu Ausschreitungen hat hinreißen lassen, weil die Entlassung ihm zu Herzen gegangen ist. Er hatte eine Frau, vielleicht auch Kinder.“
„Sie waren gar nicht verheiratet“, sagte Diederich, seinerseits entrüstet. „Ich weiß es von ihm selbst.“
„Was ändert das,“ fragte Lauer. Da erhob der Pastor die Arme. „Sind wir denn schon so weit,“ rief er, „daß es nichts ändert, ob das sittliche Gesetz Gottes befolgt wird oder nicht?“
Lauer erklärte es für unangebracht, auf der Straße und im Augenblick, wo jemand mit behördlicher Billigung totgeschossen worden sei, über sittliche Gesetze zu debattieren; und er wandte sich an das Mädchen, um ihm Arbeit in seiner Werkstatt anzubieten. Inzwischen war ein Sanitäts[pg 151]wagen angelangt; der Tote ward vom Boden aufgenommen. Wie man ihn aber hineinschob, fuhr das Mädchen aus seiner Starrheit empor, stürzte sich über die Bahre, entriß sie, ehe man es sich versah, den Männern, daß sie niederfiel – und zusammen mit dem Toten, in ihn verkrampft und unter gellendem Geschrei rollte sie auf das Pflaster. Mit großer Mühe ward sie von dem Leichnam gelöst und in eine Droschke gehoben. Der Assistenzarzt, der den Krankenwagen begleitet hatte, fuhr mit ihr fort.
Auf den Fabrikanten Lauer, der mit Heuteufel und den anderen Logenbrüdern weitergehen wollte, trat Jadassohn zu, in drohender Haltung. „Einen Augenblick, bitte. Sie äußerten da vorhin, daß hier mit behördlicher Billigung – ich nehme die Herren zu Zeugen, daß dies Ihr Ausdruck war – also mit behördlicher Billigung jemand totgeschossen sei. Ich möchte fragen, ob das von Ihrer Seite vielleicht eine Mißbilligung der Behörde bedeuten sollte.“
„Ach so“, machte Lauer und sah ihn an. „Mich möchten Sie wohl auch abführen lassen?“
„Zugleich“, fuhr Jadassohn mit hoher, schneidiger Stimme fort, „mache ich Sie darauf aufmerksam, daß das Verhalten eines Postens, der ein ihn belästigendes Individuum niederschießt, vor wenigen Monaten, nämlich im Fall Lück, von maßgebender Stelle als korrekt und tapfer bezeichnet und durch Auszeichnungen und Gnadenbeweise belohnt worden ist. Hüten Sie sich vor einer Kritik der Allerhöchsten Handlungen!“
„Ich habe keine ausgesprochen,“ sagte Lauer. „Ausgesprochen habe ich bis jetzt nur meine Mißbilligung des Herrn dort mit dem gefährlichen Schnurrbart.“
„Wie?“ fragte Diederich, der noch immer die Pflastersteine ansah, wo der Erschossene gefallen war und wo ein [pg 152]wenig Blut lag. Er begriff endlich, daß er herausgefordert war.
„Der Schnurrbart wird von Seiner Majestät getragen!“ sagte er fest. „Es ist die deutsche Barttracht. Im übrigen lehne ich jede Diskussion mit einem Arbeitgeber ab, der den Umsturz fördert.“
Lauer öffnete schon wütend den Mund, obwohl der Bruder des alten Buck, Heuteufel, Cohn und Landgerichtsrat Fritzsche ihn fortziehen wollten; und neben Diederich reckten sich kampfbereit Jadassohn und Pastor Zillich: – da erschien im Eilschritt eine Abteilung Infanterie, sperrte die Straße ab, die ganz geleert war, und der Leutnant, der die Führung hatte, forderte die Herren zum Weitergehen auf. Alle gehorchten schleunigst; sie sahen noch, wie der Leutnant vor den Wachtposten hintrat und ihm die Hand schüttelte.
„Bravo!“ sagte Jadassohn. Und Doktor Heuteufel: „Morgen kommen nun Hauptmann, Major und Oberst dran, müssen belobigen und dem Kerl Geldgeschenke machen.“
„Sehr richtig!“ sagte Jadassohn.
„Aber –“ Heuteufel blieb stehen. „Meine Herren, verständigen wir uns doch. Hat denn das alles einen Sinn? Nur weil dieser Bauerntölpel keinen Spaß verstanden hat? Ein Witz, ein gutmütiges Lachen nur, und er entwaffnet den Arbeiter, der ihn herausfordern möchte, seinen Kameraden, einen armen Teufel wie er selbst. Statt dessen befiehlt man ihm zu schießen. Und nachher kommen die großen Worte.“
Landgerichtsrat Fritzsche stimmte bei und riet zur Mäßigung. Da sagte Diederich, noch bleich und mit einer Stimme, die erschauerte:
„Das Volk muß die Macht fühlen! Das Gefühl der [pg 153]kaiserlichen Macht ist mit einem Menschenleben nicht zu teuer bezahlt!“
„Wenn es nur nicht Ihres ist“, sagte Heuteufel. Und Diederich, die Hand auf der Brust:
„Wenn es auch meins wäre!“
Heuteufel zuckte die Achseln. Während man weiterging, versuchte Diederich dem Pastor Zillich, mit dem er ein Stück zurückblieb, seine Empfindungen zu erklären. „Für mich“, sagte er, schnaufend vor innerer Bewegung, „hat der Vorgang etwas direkt Großartiges, sozusagen Majestätisches. Daß da einer, der frech wird, einfach abgeschossen werden kann, ohne Urteil, auf offener Straße! Bedenken Sie: mitten in unserem bürgerlichen Stumpfsinn kommt so was – Heroisches vor! Da sieht man doch, was Macht heißt!“
„Wenn sie von Gottes Gnaden ist“, ergänzte der Pastor.
„Natürlich. Das ist es eben. Drum hab’ ich geradezu eine religiöse Erhebung von der Sache. Man merkt doch manchmal, daß es höhere Dinge gibt, Gewalten, denen wir alle unterworfen sind. Denn zum Beispiel bei dem Berliner Krawall, vorigen Februar, als Seine Majestät sich mit so phänomenaler Kaltblütigkeit in den tobenden Aufruhr hinauswagten: na, ich sage nur –“ Da die übrigen vor dem Ratskeller stehengeblieben waren, erhob Diederich die Stimme. „Wenn damals der Kaiser die ganzen Linden hätte vom Militär absperren und in uns alle hätte ’reinschießen lassen, immer feste ’rein, sag ich ...“
„Sie hätten Hurra geschrien,“ schloß Doktor Heuteufel.
„Sie vielleicht nicht?“ fragte Diederich und versuchte zu blitzen. „Ich hoffe doch, wir empfinden alle national!“
Der Fabrikant Lauer wollte schon wieder unvorsichtig entgegnen, ward aber zurückgehalten. Statt seiner sagte Cohn:
„Nun, national bin ich auch. Aber bezahlen wir unsere Armee für solche Witze?“ Diederich maß ihn.
„Ihre Armee, sagen Sie? Herr Warenhausbesitzer Cohn hat eine Armee! Haben die Herren gehört?“ Er lachte erhaben. „Ich kannte bisher nur die Armee Seiner Majestät des Kaisers!“
Doktor Heuteufel brachte etwas von Volksrechten vor, aber Diederich betonte mit abgehackter Kommandostimme, daß er keinen Schattenkaiser wünsche. Ein Volk, das die straffe Zucht verliere, sei der Verlotterung geweiht ... Inzwischen war man im Keller angelangt, Lauer und seine Freunde saßen schon. „Na, setzen Sie sich nicht zu uns?“ ward Diederich von Doktor Heuteufel gefragt. „Schließlich sind wir wohl alle liberale Männer.“ Da stellte Diederich fest: „Liberal selbstverständlich. Aber ich gehe in den großen nationalen Fragen aufs Ganze. Für mich gibt es da nur zwei Parteien, die Seine Majestät selbst gekennzeichnet haben: die für ihn und die gegen ihn. Und da scheint es mir allerdings, daß an dem Tisch der Herren für mich kein Platz ist.“
Er vollführte eine korrekte Verbeugung und ging hinüber zu dem leeren Tisch. Jadassohn und Pastor Zillich folgten ihm. Gäste, die in der Nähe saßen, sahen sich um; eine allgemeine Stille entstand. Mit dem Rausch des Erlebten stieg in Diederich der Plan empor, Sekt zu bestellen. Drüben ward geflüstert, dann rückte jemand seinen Stuhl, es war Landgerichtsrat Fritzsche. Er verabschiedete sich, kam an Diederichs Tisch, um ihm, Jadassohn und Zillich die Hände zu schütteln, und ging hinaus.
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