„Einerseits ...“, sagte er.
Aber da hatte Diederich ihn am Ärmel ergriffen. Nach vielen Entschuldigungen in der Richtung der Damen zog er ihn beiseite, und er flüsterte bebend: „Verehrter Herr Bürgermeister, es liegt mir daran, Mißverständnissen vorzubeugen. Ich darf daher wiederholen, daß ich ein durchaus liberaler Mann bin.“
Doktor Scheffelweis versicherte flüchtig, daß er hiervon gerade so überzeugt sei wie von seiner eigenen, gut liberalen Gesinnung. Schon ward er abgerufen, und Diederich verließ, ein wenig erleichtert, das Haus. Jadassohn erwartete ihn grinsend.
„Sie haben wohl Angst gehabt? Lassen Sie nur! Mit unserem Stadtoberhaupt kompromittiert sich niemand, er ist immer, wie der liebe Gott, mit den stärksten Bataillonen. Heute wollte ich nur feststellen, wie weit er sich schon mit Herrn von Wulckow eingelassen hat. Es steht nicht übel, wir können uns ein Stück vorwagen.“
„Vergessen Sie, bitte, nicht,“ sagte Diederich, mit Zurückhaltung, „daß ich in der Netziger Bürgerschaft zu Hause und natürlich auch liberal bin.“
Jadassohn sah ihn von der Seite an. „Neuteutonia?“ fragte er. Und als Diederich sich erstaunt umwandte: „Wie geht es denn meinem alten Freund Wiebel?“
„Sie kennen ihn? Er war mein Leibbursch!“
„Kennen! Ich habe mit ihm gehangen.“
Diederich ergriff die Hand, die Jadassohn hinhielt, sie [pg 137]schüttelten einander kraftvoll. „Na dann!“ „Na also!“ Und Arm in Arm gingen sie in den Ratskeller, Mittag essen.
Dort war es einsam und dämmerig, hinten ward für sie das Gas angezündet, und bis die Suppe kam, machten sie alte Kommilitonen ausfindig. Der dicke Delitzsch! Diederich berichtete mit der Genauigkeit eines Augenzeugen über seinen tragischen Tod. Das erste Glas Rauenthaler weihten sie still seinem Andenken. Es zeigte sich, daß auch Jadassohn die Februarkrawalle mitgemacht und damals die Macht verehren gelernt hatte, wie Diederich. „Seine Majestät hat einen Mut bewiesen,“ sagte der Assessor, „daß einem schwindlig werden konnte. Mehrmals habe ich, weiß Gott, geglaubt –.“ Er stockte, sie sahen schaudernd einander in die Augen. Um über die entsetzliche Vorstellung hinwegzukommen, erhoben sie die Gläser. „Gestatte mir“, sagte Jadassohn. „Ziehe gleich mit“, erwiderte Diederich. Und Jadassohn: „Werte Lieben mit eingeschlossen.“ Und Diederich: „Werde zu Hause davon zu rühmen wissen.“
Dann ließ sich Jadassohn, obwohl sein Essen kalt ward, auf eine ausführliche Würdigung des kaiserlichen Charakters ein. Die Philister, Nörgler und Juden mochten an ihm aussetzen was sie wollten, alles in allem war unser herrlicher junger Kaiser die persönlichste Persönlichkeit, von erfreulicher Impulsivität und ein höchst origineller Denker. Diederich glaubte dies auch schon festgestellt zu haben und nickte befriedigt. Er sagte sich, daß das Äußere eines Menschen zuweilen trüge, und daß die deutsche Gesinnung nicht notwendig von der Größe der Ohren abhänge. Sie leerten ihre Gläser auf den glücklichen Ausgang des Kampfes für Thron und Altar, gegen den Umsturz in jeder Form und Verkleidung.
So gelangten sie wieder zu den Zuständen in Netzig. Sie waren sich einig darin, daß der neue nationale Geist, für den es die Stadt zu erobern galt, kein anderes Programm brauche als den Namen Seiner Majestät. Die politischen Parteien waren alter Trödel, wie Seine Majestät selbst gesagt hatte. „Ich kenne nur zwei Parteien, die für mich und die wider mich“, hatte er gesagt, und so war es. In Netzig überwog leider noch die Partei, die gegen ihn war, aber das sollte sich ändern, und zwar – dies war Diederich klar – vermittels des Kriegervereins. Jadassohn, der ihm nicht angehörte, übernahm es gleichwohl, Diederich mit den leitenden Persönlichkeiten bekannt zu machen. Da war vor allem Pastor Zillich, ein Korpsbruder von Jadassohn, ein echt deutscher Mann! Gleich nachher wollten sie ihn besuchen. Sie tranken auf sein Wohl. Auch auf seinen Hauptmann trank Diederich, den Hauptmann, der aus einem strengen Vorgesetzten sein bester Freund geworden war. „Das Dienstjahr ist doch das Jahr, das ich aus meinem Leben am wenigsten missen möchte.“ Unvermittelt und schon ziemlich gerötet, rief er aus:
„Und solche erhebenden Erinnerungen möchten diese Demokraten uns verekeln!“
Der alte Buck! Diederich konnte sich plötzlich nicht fassen vor Wut, er stammelte: „Am Dienen will solch ein Mensch uns hindern, er sagt, wir sind Knechte! Weil er mal Revolution gemacht hat –“
„Das ist ja schon nicht mehr wahr“, sagte Jadassohn.
„Darum sollen wir uns wohl alle zum Tode verurteilen lassen? Hätten sie ihn wenigstens geköpft!... Die Hohenzollern sollen uns schlecht bekommen sein!“
„Ihm sicher“, sagte Jadassohn und tat einen großen Zug.
„Aber ich stelle fest –“ Diederich rollte die Augen –, [pg 139]„daß ich all seinen lästerlichen Unfug nur angehört habe, um mich darüber zu unterrichten, wes Geistes Kind er ist. Ich nehme Sie zum Zeugen, Herr Assessor! Wenn der alte Intrigant jemals behaupten sollte, daß ich sein Freund bin und seine infamen Majestätsbeleidigungen gebilligt habe, dann nehme ich Sie zum Zeugen, daß ich gleich heute protestiert habe!“
Der Schweiß brach ihm aus, denn er dachte an die Sache mit der Baukommission und an den Schutz, den er bei ihr genießen sollte ... Unvermittelt warf er ein Buch auf den Tisch, ein kleines, fast quadratisches Buch, und stieß ein Hohngelächter dabei aus.
„Dichten tut er auch!“
Jadassohn blätterte. „Turnerlieder. Aus der Gefangenschaft. Ein Hoch der Republik! und Am Weiher lag ein Jüngling, trübselig anzuschauen ... Stimmt, so waren die. Sträflinge versorgen und an den Grundlagen rütteln. Sentimentaler Umsturz. Gesinnung verdächtig und Haltung schlapp. Da stehen wir, Gott sei Dank, anders da.“
„Das wollen wir hoffen“, sagte Diederich. „In der Verbindung haben wir Mannhaftigkeit und Idealismus gelernt, das genügt, da erübrigt sich das Dichten.“
„Fort mit euren Altarkerzen!“ deklamierte Jadassohn. „Das ist etwas für meinen Freund Zillich. Jetzt hat er sein Schläfchen hinter sich, wir können losgehen.“
Sie fanden den Pastor beim Kaffee. Er wollte Frau und Tochter sogleich hinausschicken, Jadassohn hielt die Hausfrau galant zurück und versuchte auch dem Fräulein die Hand zu küssen, aber sie wandte ihm den Rücken. Diederich, sehr aufgeheitert, bat die Damen dringend, zu bleiben, und ihm gelang es. Er erklärte ihnen, daß Netzig nach Berlin beträchtlich still wirke. „Die Damenwelt ist [pg 140]auch noch zurück. Mein Ehrenwort, gnädiges Fräulein, Sie sind hier die erste, die ruhig Unter den Linden spazierengehen könnte, und kein Mensch würde merken, daß Sie aus Netzig sind.“ Darauf erfuhr er, daß sie wirklich einmal in Berlin gewesen war, und sogar bei Ronacher. Diederich zog hieraus Vorteil, er erinnerte sie an ein dort gehörtes Couplet, das er ihr aber nur ins Ohr sagen könne. „Unsre lieben süßen Dam’n, zeigen alles, was sie ham’n“ ... Da sie einen dreisten Seitenblick warf, streifte er mit dem Bart ihren Hals. Sie sah ihn flehend an, worauf er ihr erst recht versicherte, daß sie ein „reizender Käfer“ sei. Sie flüchtete mit geschlossenen Augen zu ihrer Mutter, die alles überwacht hatte. Der Pastor war mit Jadassohn in ernstem Gespräch. Er klagte, daß der Kirchenbesuch in Netzig unerhört vernachlässigt werde.
„Am Sonntag Jubilate: verstehen Sie wohl, am Sonntag Jubilate habe ich vor dem Küster und drei alten Damen aus dem Jungfrauenstift predigen müssen. Die anderen hatten Influenza.“
Jadassohn sagte: „Bei der lauen, um nicht zu sagen, feindseligen Haltung, die die herrschende Partei den kirchlichen und religiösen Dingen gegenüber einnimmt, muß man sich über die drei alten Damen wundern. Warum besuchen sie nicht lieber die freigeistigen Vorträge des Doktors Heuteufel?“
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