Trish schluckt schwer und ihre Augen schweifen durch den Raum. „Seit du in Pu… Pi… Pittsburgh warst. Ja, Pittsburgh. Bei diesem … diesem Anwaltskongress vor ein paar Wochen“, stammelt sie und nickt heftig.
Also, das hätte ich jetzt nicht erwartet. Vielleicht wusste ich es auch und es ist mit allen anderen Erinnerungen verloren gegangen. Jedenfalls habe ich eine Information bekommen, mit der ich zwar nichts anfangen kann, aber immerhin besser als gar nichts. Wer weiß, vielleicht erfahre ich heute Abend noch so einiges, was in diesen vier Jahren passiert ist, und kann meiner Therapeutin morgen davon berichten.
„Ach, Trish. Ich freue mich für dich. Luke ist ein anständiger Kerl. Aber etwas trinken gehen? Ich weiß nicht. Mir ist nicht danach und außerdem machen mich die Medikamente etwas müde. Geht ihr drei ruhig. Vielleicht ein anderes Mal.“
Zurück am Tisch versuche ich, Chris nicht so oft anzusehen, was mir besonders schwerfällt, weil es jedes Mal in meinem Bauch kribbelt, wenn ich ihn ansehe. Sobald er eine Bewegung macht, gleiten meine Augen zu ihm hinüber. Er ist wie ein Magnet, der mich auf eine unsichtbare Art anzieht. Bestimmt hat er auf die restliche weibliche Bevölkerung den gleichen Effekt wie auf mich. Ich meine, hier sitzen so einige Frauen, die ihn beäugen. Er würdigt sie aber keines Blickes, sieht nur Luke, Trish und mich an.
Und wenn seine Augen zu mir rüber wandern, hat er immer diesen liebevollen, intensiven Blick, der mir eine Hitzewelle nach der anderen durch den Körper jagt und die Schmetterlinge in meinem Bauch fliegen lässt. Seine Mundwinkel ziehen sich dabei leicht nach oben, und seine Augen sehen sehr oft auf meinen Mund, was dazu führt, dass mein Gesicht heiß wird. Ich glaube, er findet mich attraktiv und versucht, mit mir zu flirten.
Am Ende des Abends begleicht Chris trotz heftiger Proteste von Luke die Rechnung und wir begeben uns nach draußen. Ich habe es tatsächlich geschafft, nett zu ihm zu sein. Wow! Was für ein Fortschritt. Anscheinend ist meine Freundlichkeit eine Nebenwirkung der Schmerztabletten. Die sollen, laut Beipackzettel, eine Menge davon haben. Vielleicht ist diese bissige Art eine davon. Luke und Trish verkünden, dass sie noch ins Cellar wollen, und fragen uns, ob wir nun mitwollen, da Chris vorhin nur „Mal sehen“ gesagt hat.
Er antwortet nicht, sondern sieht mich an und wartet auf meine Antwort. Mir wird plötzlich heiß und diese kleinen Schmetterlinge fliegen wieder in meinem Bauch herum. Dieses Gefühl ist zwar beängstigend, aber dennoch unbeschreiblich schön.
„Ich will euch nicht den restlichen Abend verderben und außerdem bin ich k. o. Beim nächsten Mal bin ich dabei.“
„Ja, ich passe auch“, winkt Chris ab. „Ich will nicht das fünfte Rad am Wagen sein.“
Luke legt den Arm um Trish und zieht sie zu sich heran. Meine beste Freundin schlingt ihre Arme um die Taille meines Cousins und grinst ihn verliebt an. Mein Herz schwillt vor Glück an. Wer hätte gedacht, dass die zwei zueinanderfinden würden.
„Hey, Dude! Kannst du Lay nach Hause bringen?“, fragt Luke.
„Quatsch! Ich nehme ein Taxi.“
Nichts gegen eine kostenlose Fahrt, aber auf engstem Raum mit Chris zu sitzen, wäre nach dem heutigen Abend zu viel. Ich musste ihn während der ganzen Zeit ständig anstarren und habe mich nach den Bemerkungen, die aus meinem Mund gekommen sind, später kaum noch getraut, etwas zu sagen. Und nun soll er mich nach Hause fahren?
„Lay …“, beginnt Luke, aber ich falle ihm ins Wort, bevor er den großen Bruder raushängen lässt, was er in einigen Situationen, wie in dieser hier zum Beispiel, gern macht.
„Luke, ich brauche keinen Babysitter, klar? Ich nehme mir ein Taxi und ihr könnt weiterziehen.“
Chris sieht mich enttäuscht an. Anscheinend hat er gehofft, mit mir allein zu sein. Vielleicht wollte er sich an mich ranmachen. Den ganzen Abend hat er mich schon mit seinen Augen verspeist. Das ist etwas übertrieben, ich weiß, aber für mich hat sich das so angefühlt.
Das schlimme Erlebnis während meiner Collegezeit, als Bruce sich in übler Art über mich hermachen wollte, reicht mir. Ich bin nicht scharf darauf, das Gleiche noch mal durchzumachen. Damals war Trish rechtzeitig zur Stelle, um mir zu helfen, als ich bewusstlos unter ihm lag. Heute kann sie mir nicht zu Hilfe eilen, um mich aus den Klauen eines Mannes zu retten, der wahrscheinlich denkt, dass ich scharf auf ihn bin, nur weil ich ihn oft angestarrt habe. Mag sein, dass Chris Lukes bester Freund seit Highschooltagen ist, und dass Luke ihm blind vertraut, aber für mich ist er praktisch ein Unbekannter. Und zu einem Unbekannten setze ich mich nicht ins Auto.
Meine Stunde mit der Therapeutin ist vorbei. Ich habe ihr von dem gestrigen Abend erzählt und dass ich einem alten Bekannten begegnet bin, bei dem ich nicht so war, wie ich mich selbst in Erinnerung habe. Es hat sich komisch, aber auch gleichzeitig gut angefühlt. Verboten, aber auch verlockend. Fremd, dennoch irgendwie vertraut. Sie fand diese Informationen sehr interessant und würde sie gern in der nächsten Sitzung eingehender besprechen.
Ich verabschiede mich, lege den Termin für die nächste Sitzung fest und gehe durch die Tür des Krankenhauses auf die Straße. Ich höre, wie jemand nach mir ruft, drehe mich um und sehe Chris vor mir. Es ist fast Mittag und er müsste eigentlich im Büro sein. Ah, ich vergaß. Er ist ja der Chef der Firma und kann kommen und gehen, wann er will. Typisch reicher Erbe.
„Chris? Was machst du hier?“
„Ich … ähm … Ich möchte einen Freund besuchen, der eine … ähm … Operation hatte, und habe dich zufällig gesehen“, antwortet er und fährt sich durch die Haare. „Und was machst du hier? Alles okay?“
Na klar. Außer mit meinem Gehirn, in dem einige Sicherungen durchgeknallt sind, ist alles okay. Ich bin mir ziemlich sicher, dass nach unserem Treffen im Bistro neulich Abend, Luke ihm von meinem Gedächtnisverlust erzählt hat. „Ja. Ja, alles okay. Meine Therapeutin meint, es könnte besser sein, aber … Hey … vielleicht sollte ich einen Klempner aufsuchen, der die Schrauben in meinem Kopf wieder festdreht.“
Ich fange an, zu lachen, um meine depressive Stimmung zu überspielen. Nichts ist okay. Nichts hat sich geändert und es wird in den nächsten Wochen bestimmt auch nicht besser werden. Ich muss mich damit abfinden, dass ich einen Teil meines Lebens für immer verloren habe.
Chris starrt auf den Boden und steckt seine Hände in die Hosentaschen. Seine Haare fallen ihm ins Gesicht, und ich muss sagen, er sieht viel süßer aus als gestern. Plötzlich hebt er seinen Kopf und sieht mich an. Dieses wundervolle Kribbeln in meinem Bauch und die Hitze, die durch meinen ganzen Körper fährt, sind wieder da. Mein Herz beginnt, aufgeregt zu schlagen.
„Dann … will ich dich nicht, auf… aufhalten“, stammele ich und wende mich ab, um seinem intensiven Blick aus dem Weg zu gehen.
„Vielleicht trinken wir mal zusammen einen Kaffee?“, höre ich, wie er ruft.
Ich wirbele noch einmal herum, sehe sein süßes Lächeln und erwidere es automatisch. In seiner Gegenwart fühle ich mich irgendwie gut. Es ist, als würde ich ihn eine Ewigkeit kennen. Ich kann dieses Gefühl nicht beschreiben, aber es fühlt sich ziemlich gut an.
„Ja, vielleicht“, antworte ich schnell und gehe auf die Straße, um mir endlich ein Taxi zu rufen.
Christopher
Sie geht an den Straßenrand, um nach einem Taxi Ausschau zu halten, und ich sehe ihr hinterher. Dieser Hüftschwung wirft mich immer noch aus der Bahn. Noch immer beschert mir ihre Kehrseite eine Erektion. Und ich habe gleich einen Termin mit ihren Ärzten, um mich über ihren Zustand zu informieren. Da ich am Unfallabend hier im Krankenhaus war und die Ärzte mich kennen, hoffe ich, dass ich Auskunft bekomme.
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