Ein anderes Beispiel für Bultmanns Verständnis ist Mt 12,49: hier nenne Mt die um Jesus sitzenden Personen „Jünger“, aber er verstehe unter ihnen „zweifellos“ die Zwölf (par Mk 3,34).14 Sehr ähnlich sieht Bultmann das bei den Apophthegmata: „Auch für Mt versteht sich diese Identität [der μαθηταί mit den Zwölf; V.L.] schon von selbst […].“15 Die von Mk eingebrachte Gleichsetzung der „Jünger“ mit den „Zwölf“ sei auf der nächsten Überlieferungsstufe bereits selbstverständlich geworden, so dass spätere Abschreiber wie Mt wieder allgemein von „seinen Jüngern“ reden, aber damit – stillschweigend, weil voraussetzend – die bestimmten „Zwölf“ meinen!16 So wie in Mt 17,1-14 par Mk 9,2-14 spreche Mt auch an diesen Stellen allgemein von „Jüngern“, während in der Parallele bei Mk einzelne Jünger genannt sind. Bultmann deutet diesen mt Vorzug von „Jüngern“ gegenüber Einzeljüngern als „Interesse für die Zwölf“.17 Daraufhin leitet Bultmann zum nächsten Aspekt der „Überlieferungstendenz“ über: von der selbstverständlichen Gleichsetzung der Jünger mit den Zwölf ausgehend werden auf der nächsten Überlieferungsstufe wieder Einzelpersonen – wie z.B. Petrus – aus dem Zwölferkreis hervorgehoben.18 Deswegen entspreche es laut Bultmann eher der allgemeinen Entwicklung, dass Mt manchmal einzelne Jünger nennt, anstatt wie Mk allgemein von den „Jüngern“ zu reden (z.B. Mk 7,17 par Mt 15,15 oder 18,21).
1.1.2 Kritische Anfragen an Bultmanns formkritische Deutung der zwölf Jünger
An Bultmanns Deutung der Jünger im Allgemeinen sowie der zwölf Jünger im Speziellen lassen sich einige kritische Anfragen richten.1 Erstens: Ist Bultmanns Entwicklungs-Modell in sich konsistent und damit auch praktisch anwendbar? Denn für Bultmann ist die Hervorhebung von Einzelpersonen einerseits ein Kennzeichen für den sekundären Charakter und andererseits theoretisch in allen Überlieferungsphasen auffindbar.2 Nach welchen Kriterien sollte dann über das Alter einer solchen Angabe entschieden werden? Das führt zu den nächsten beiden kritischen Beobachtungen. Zweitens: Bultmanns These, dass die meisten der Verweise auf den Zwölferkreis im MkEv auf den Evangelisten Mk zurückgehen, lässt sich aus redaktionskritischer Sicht in Frage stellen, so z.B. durch Ernest Best geschehen.3 Drittens: Einerseits sieht Bultmann im Wechsel von den allgemeinen Jüngern (im MkEv) hin zum einzelnen und konkreten Jünger (im MtEv) die normale und erwartbare Entwicklung. Allerdings findet sich im MtEv auch der umgekehrte Wechsel, wenn Mt nicht mehr einzelne Personen reden lässt, wie es noch bei Mk der Fall war, sondern allgemein die „Jünger“. Diesen ungewöhnlichen Wechsel deutet Bultmann aber als Interesse an den Zwölf. Sollte das Überlieferungsgesetz tatsächlich stimmen: ließe sich dieser Wechsel nicht auch als ein Argument gegen eine einfache Abhängigkeit des MtEv vom MkEv deuten? Und könnte man außerdem diese Reihenfolge als Infragestellung des Überlieferungsgesetzes deuten, dass es zumindest in dieser starren Form nicht zutrifft? Das leitet über zum nächsten Punkt. Viertens: Lässt sich nachweisen, dass in der Überlieferung des synoptischen Stoffs die Differenzierung, Detailliertheit und Individualisierung tatsächlich zunimmt? In der Jesus-Forschung werden die „Überlieferungsgesetze“ als Authentizitäts-Kriterium infrage gestellt.4 Ebenfalls kritisch ist die neuere Form- und Gattungsforschung: sie bemängelt den Grundsatz der klassischen Formgeschichte, dass das Einfachere und Kürzere das Ursprünglichere sei. Vielmehr müsse man mit verschiedenen Varianten von Formen rechnen, die insgesamt unbeständig seien.5 Vielfach wird hierbei verwiesen auf E.P. Sanders’ The Tendencies of the Synoptic Gospels , in der Sanders die Überlieferungsgesetze der formgeschichtlichen Schule (insbesondere bei Bultmann und Dibelius) einer gründlichen Überprüfung unterzogen und kritisiert hat: die von Dibelius und Bultmann behauptete Tendenz, dass die Detailliertheit mit der Zeit stetig wachse, sei falsch und von ihnen nie ausreichend begründet worden.6 Stattdessen gebe es sowohl Erweiterungen als auch Kürzungen im Stoff.7 Fünftens : Bultmann begründet seine These, dass Mt die „Jünger“ und die Zwölf gleichsetze, mit der Behauptung, dass Mt diese Gleichsetzung von Mk übernommen habe. Diese Gleichsetzung sei für Mt „selbstverständlich“. Bultmann impliziert erstens, dass man die Gleichsetzung nicht an der redaktionellen Tätigkeit des Evangelisten Mt nachweisen müsse. Hierbei stellt sich die Frage: auf welche alternative Weise könnte man belegen oder widerlegen, was der Evangelist gedacht oder gemeint hat, wenn er „Jünger“ schrieb, wenn nicht am Text selbst? Und wäre es nicht konsequent zu schlussfolgern, dass die Rede von den „Jüngern“ in die vor-mk-Phase einzuordnen sei, weil „Jünger“ so allgemein und unbestimmt klingt, als wäre eine nicht näher definierte Anhängerschaft gemeint? Und zweitens impliziert Bultmann, dass der Evangelist Mt den Jünger-Stoff des MkEv „richtig“ gelesen habe. Doch hat Mt diese (nur) in der redaktionellen Tendenz erkennbare Gleichsetzung von Jüngern und Zwölf wirklich erkannt, indem er – gewissermaßen form- und redaktionskritisch denkend – die älteren traditionellen Elemente von den jüngeren mk Elementen trennen konnte?8 Außerdem müsste Bultmann dann erklären, warum der Evangelist Lk die Zwölf meistens „Apostel“ (und manchmal „Jünger“) und die anderen Jesusanhänger meistens „Jünger“ nennt. Vorausgesetzt, dass Lk (u.a.) das MkEv als Quelle hatte: Könnte es nicht auch sein, dass Lk im MkEv gar keine absolute Gleichsetzung von „Jüngern“ und Zwölf vorfand? Sechstens : Belegen die Stellen, die Bultmann aus dem MtEv anführt, tatsächlich ein besonderes Interesse des Evangelisten Mt am konkreten Jüngerkreis, den er zudem mit dem Zwölferkreis gleichsetze? Z.B. lässt sich aus Mt 17,4 lediglich ableiten, dass einzelne Mitglieder des Zwölferkreises auch „Jünger“ genannt werden. Und würde man in Mt 17 die Erzählungsabfolge von V.1-13 und V.14-20 beachten, dann wäre es eine angemessene Schlussfolgerung, dass mit den „Jüngern“ in V.16.19 diejenigen gemeint sind, die Jesu Verklärung gerade nicht miterlebt hatten; d.h. es gibt in 17,1ff zwei verschiedene Personengruppen, die beide „Jünger“ genannt werden.9
Nach dem zweiten Weltkrieg kam mit den Veröffentlichungen von Günther Bornkamm (zum MtEv), Willi Marxsen (zum MkEv) und Hans Conzelmann (zum LkEv) die redaktionskritische Methodik auf und dominierte die Evangelien-Forschung mindestens bis in die 1980er Jahre.1 Der Redaktor galt nicht mehr in erster Linie als „Sammler“ von überlieferten Einzelformen, die er mehr oder weniger sinnvoll ordnete,2 sondern als ein theologisch bewusster und klug gestaltender Interpret seiner Quellen.3 Anhand der redaktionellen Modifikationen seiner Quellen versuchte man sowohl die Theologie des Evangelisten als auch den „Sitz im Leben“ eines Textes zu rekonstruieren.4 Dabei betrachtete man den Text gewissermaßen als ein „Fenster“ für die dahinterliegende reale Gemeindesituation.5 Das konkretisierte sich u.a. darin, verschiedenen Personen des Textes reale Personen innerhalb oder außerhalb der mt Gemeinde zuzuweisen. Einen besonders klaren Blick auf die mt Gemeindesituation versprach man sich von der Jüngergruppe im MtEv. Im Zusammenhang mit den „Jüngern“ und ihrer Bedeutung für die mt Gemeinde gingen etliche redaktionskritisch arbeitende Forscher auch speziell auf die zwölf Jünger ein. Dabei waren v.a. zwei Verhältnisbestimmungen ausschlaggebend: erstens das Verhältnis zwischen den Jüngern und den zwölf Jüngern, und zweitens das Verhältnis zwischen den (zwölf) Jüngern und „Mitgliedern“ der mt Gemeinde.
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