Wieder machte sich Stille breit, ich saß mit offenem Mund da.
„Ich weiß es nicht“, versuchte ich auf seine Frage mit derselben Ernsthaftigkeit zu antworten, die ich in seinem alten Gesicht entdeckte. Andererseits war ich völlig überrascht. Was Borges mir soeben erzählt hatte, war praktisch eine Beichte. Soweit ich wusste, war keinem seiner Biografen diese Beziehung aufgefallen.
„Jetzt möchte ich gerne alles hören. Offensichtlich ist Milton Sills bedeutender, als es die Erwähnung seines Fotos in Emmas Schublade vermuten lässt.“
„Das Porträt, das Sie meinen, ohne Bart, war eine dieser alten Daguerreotypien, wie man sie damals in den Fotostudios machte, ich weiß nicht, ob Sie schon einmal eine gesehen haben. Ich war mit ihm zusammen, als diese Daguerreotypie gemacht wurde, wissen Sie? Es war vielleicht bei unserer dritten Verabredung, ich begleitete ihn zu diesem Studio in meinem Viertel.“
Plötzlich verstummte Borges, so als wäre ihm ein Irrtum unterlaufen, als wäre ihm aufgefallen, dass er etwas besser nicht erzählt hätte. Er reckte seinen Hals, öffnete seine leeren Augen ein Quäntchen mehr, sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Schmerz und verzerrtem Lächeln, ein mir für alle Zeiten unerklärliches Lächeln. Er stützte sich auf seinen Stock, seine knöchernen Finger wanden sich um den Knauf wie Schlangen auf der Suche nach einem Unterschlupf. Eine weitere Minute des Schweigens verging.
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„Milton war es, der mich diese Geschichte erleben ließ“, sagte er schließlich etwas unbehaglich. „Im Vorwort zur damaligen Ausgabe der Erzählung schrieb ich, jemand hätte sie mir erzählt. Natürlich habe ich einige Adjektive hinzugefügt, das war unvermeidlich. Ich erinnere mich sehr genau, dass ich ein paar Hinweise in die Erzählung eingebaut habe, damit sie jemandem auffielen, aber das ist so lange her, dass ich mich nicht mehr an sie erinnere. Und bis zum heutigen Tag hat niemand dieses Detail bemerkt. Ich beglückwünsche Sie dazu, mein Freund.“
Das war nun der Kuss gewesen, auf den der unbeschreibliche Geschmack der Ungewissheit folgte. Gab es noch etwas zu fragen? War das schon alles? Natürlich nicht, vieles war noch offen, aber ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Dennoch, ich konnte mir trotz des Vorwortes zu Das Aleph nicht vorstellen, dass Borges nicht der wirkliche Autor dieser Geschichte sein sollte. Ich hatte ihn immer als etwas Besonderes betrachtet, als ein Genie, aber von jetzt an sah ich ihn auch als Menschen, einen blinden Alten mit schlechtsitzendem Krawattenknoten, der gleichwohl der Patriarch war, den ich seit meinem Studium so sehr bewundert hatte.
„Borges, der Beweis ist Ihnen nicht gelungen“, nahm ich mir heraus zu sagen.
„Ja ... und nein ... natürlich ...“, war seine Antwort. „Wie bei fast allem, mein Freund, was man schreibt, ist alles, was wir erzählen, eine Version dessen, was unser Denken einmal durchstreift hat, ob real oder imaginiert. Es liegt beim Schriftsteller, diese Version glaubhaft zu machen und sie auf interessante Weise zu erzählen, glauben Sie nicht?“
„Sie haben re...“
„Und übrigens war diese Geschichte fast nicht zu glauben, aber alle glaubten sie oder fast alle, nur bestimmte Leute akzeptierten die Version der Geschehnisse nicht, weil sie im Wesentlichen zu stimmig war. Zutreffend war Emmas Ton, als sie mit der Polizei sprach, wahrhaftig ihre Scham, als sie die verhängnisvolle Tat beging, ebenso wahrhaftig war auch der Hass, den sie empfand. Genauso wahrhaftig war auch die Schande, die die Arme erlitten hatte. Bedenken Sie, dass sie sich als Werkzeug der Gerechtigkeit begriff und dass sie von den Menschen nicht bestraft werden konnte, oder besser gesagt, nicht bestraft werden sollte. In der ganzen Geschichte waren nur einige wenige Begebenheiten falsch, die Zeitangaben, der eine oder andere Name, Namen, die ich natürlich verfremdet habe, um polizeilichen Verfolgungen zu entgehen.“
Mit wenigen Abweichungen gab er mir das Ende der Erzählung wieder. Würde er sich nach so langer Zeit wirklich noch so genau daran erinnern, was er geschrieben hatte? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
„Das war die Erzählung, nicht wahr?“, endete er mit einem breiten Lächeln. Ich wusste nicht, ob er sich über mich lustig machte. „Ich erinnere mich sehr genau“, fügte er hinzu, „dass sie so endet, weil die Geschichte wahrhaftig ist.“
„Und die Polizei?“, fiel mir zu fragen ein. Borges antwortete nicht, er begnügte sich mit einem Seufzen.
Die Stille, die sich zwischen uns aufbaute, wurde plötzlich durch einen kräftigen Prasselregen unterbrochen, ein Donner ließ das ganze Gebäude erzittern, derart heftig, dass Borges und ich – María eilte aus der Küche zu uns – gleichzeitig aufschreckten, und nicht nur Borges, sondern auch María und ich nun in vollkommener Dunkelheit standen.
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