Sie fuhren. Mechtild schwätzte mit dem Fahrer, und nach fünf Minuten bereits stellte es sich heraus, daß sie gemeinsame Bekannte hatten. Ja, die schlesischen Gutsbesitzer – sie waren im Grunde doch eine einzige große Familie. »Die Thielemanns – natürlich kannten meine Eltern die. Und die Quitzows ...«
Ullo hörte zu und lächelte. Ihr Mann war bürgerlich, obwohl auch Gutsbesitzer. Jetzt Flieger. Wo? Sie ahnte es nicht. Gerade hörte sie:
»Die Schalls? Natürlich, kenne ich auch. Mein Mann lag mit einem Schall zusammen, da bekam die Frau das vierte Kind.«
Sie hatten eine große Speckseite ausgepackt, von der schnitt Mechtild von Zeit zu Zeit eine Scheibe ab und steckte sie dem Fahrer in den Mund. Er kaute vergnügt. Wieviel Benzin er habe, wagten die beiden jungen Frauen nicht zu fragen.
»Und wohin wollen Sie?« fragte er nun.
»Zunächst nach Görlitz. Von dort aus nach Dresden. Ich habe da eine Möglichkeit, unterzukommen«, sagte Mechtild. »Drei alte Tanten von mir bewohnen in Radebeul, also in einem Vorort von Dresden, ein Häuschen oder bewohnten es, ich weiß nicht, ob es sie noch gibt.«
Mechtild und Ullo waren in endlosen Nachtgesprächen alle Möglichkeiten durchgegangen. Mechtild war ein Jahr lang in Sachsen als landwirtschaftliche Lehrerin tätig gewesen, das bedeutete eine große Chance. »Wenn wir in Radebeul unterkommen, sind wir erstmal aus dem Wasser«, sagte sie zuversichtlich. Sie verschwieg, auch Ullo gegenüber, daß diese drei Tanten keineswegs mit ihr verwandt waren, sondern Bekannte von Bekannten. In Wirklichkeit erinnerte sie sich nicht einmal an ihre Namen, geschweige denn an Straße und Hausnummer. ›Ich erkenne es dann schon wieder, wenn ich dort bin‹, sagte sie sich, ›und wenn nicht – auf der Straße werden wir mit unseren Ablegern schon nicht liegenbleiben.‹ In Gottes Namen, so wie sie reisten jetzt Tausende.
»Guck, das Gebirge! Schön, ja?« sagte sie in diesem Augenblick und deutete nach links. Ullo hob das Gesicht. Geliebte, geliebte Heimat – oh, es riß an ihrem Herzen. Sie vermochte nicht, wie Mechtild, einfach vorwärts zu sehen, so sehr sie sich auch darum bemühte. Tausend Kindheitserinnerungen überfielen ihr Herz, während sie krampfhaft nach vorn blickte, mit weit aufgerissenen Augen, damit sie nicht überliefen. Sie konnte nicht glauben, daß sie je wiederkommen würden.
Das Benzin reichte wahrhaftig bis Görlitz. Ein paar Mal hielt der Fahrer an und goß nach – jedesmal unterdrückten seine beiden Begleiterinnen gewaltsam die Frage, die ihnen auf den Lippen brannte: ist das nun das letzte? Kurz vor Görlitz schien es das zu sein. Er murmelte etwas, das sie nicht verstanden und nicht verstehen wollten. Bis er, ein wenig deutlicher, sagte:
»Wenn ich mehr hätte, würde ich Sie wahrhaftig weiter bringen.« Dabei tauchte er einen bereits ziemlich verlorenen Blick in Mechtilds blaue Augen. Immer war das so gewesen: ein männliches Wesen brauchte nur eine Viertelstunde mit ihr zusammenzusein, so zappelte es in ihren Netzen. Daran änderte weder ihre Heirat noch die Anwesenheit der äußerst munteren und zur Zeit nicht sehr erfreulichen Zwillinge etwas. Die waren während der Fahrt nicht müßig gewesen, hatten versucht, herumzukrabbeln, beschmierten sich und die anderen mit Eßbarem und schliefen leider nur in einer wohldurchdachten Ablösung: einer war immer wach und aktiv. Ullo, die vor ihnen saß, war mehrmals am Ende ihrer Nerven trotz aller ernstlichen Vorsätze, auszuhalten, aber Mechtild bekam es immer wieder hin, die beiden irgendwie abzulenken und außer Gefecht zu setzen. Natürlich durfte es nicht so weit kommen, daß dem Fahrer der Geduldsfaden riß.
Sie schaffte es. Und er schaffte es auch, er fuhr sie in Görlitz wahrhaftig noch an den Bahnhof. Mechtilds unwiderstehlicher »Gebrauchscharme« bewährte sich, überhaupt mußten sie einen guten Stern haben. Als der Fahrer ihnen all ihr Gepäck, auch den Rucksack mit dem längst heruntergezogenen Überzug des genierlichen Gegenstandes, auf den Bahnsteig gewuchtet hatte, fuhr in dieser Sekunde tatsächlich ein leerer Zug ein, der von Westen kam und hier Kopfstation machte, um Flüchtlinge aufzunehmen: eine Chance, die man in dieser Zeit so wenig erwarten konnte wie dreimal hintereinander den Blitz in denselben, nicht einmal sehr hohen Baum einschlagen zu sehen. Sie erfaßten sie alle drei und warfen wortlos, was sie soeben auf den Bahnsteig gestellt hatten, in den Zug hinein, die Zwillinge hinterher, und Ullo zog sich, den Kleinen im linken Arm, mit dem rechten hinauf, um zwischen den unzähligen Anstürmenden jedenfalls ins gleiche Abteil wie Gepäck und Kinder zu gelangen. Hinter und vor ihr, rechts und links, arbeitete es sich empor gleich ihr, sie wurde gedreht und gequetscht, hielt das Kind schützend an sich gedrückt und fand sich dann plötzlich am Fenster wieder. Hinausschauend sah sie noch, wie ihr Fahrer Abschied von Mechtild nahm – er hatte ihr Gesicht mit beiden Händen umfaßt und küßte es unzählige Male, während er lachte, es ansah und wieder küßte – und dann schob er sie so kräftig und nachdrücklich in das schon übervolle Abteil hinauf, daß sie wirklich noch hineinging, ihr als letztes einen liebevoll knallenden Klaps aufs Hinterteil versetzend.
»Au – danke«, rief Mechtild noch, da rollte der Zug an. Ullo winkte – »danke danke danke –«
»Teufel nochmal, der konnte es aber!« ächzte Mechtild und wischte sich den Mund. »Seid ihr auch vollzählig da, ihr Trabanten? Hat Tante Ullo gut aufgepaßt? Na, haben wir nicht wieder mal Glück?« strahlte sie. Ullo nickte.
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