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Wie erwähnt, bin ich von Beruf Krankenschwester. Weil ich zu blöd zum Medizinstudium war, sagen meine Eltern (sie verwenden natürlich andere Adjektive als „blöd“. Eher so etwas wie „rebellisch“, „aufsässig“, „unkonzentriert“). Weil ich auf einkommensstarke Männer in weißen Kitteln stehe, sagen meine Freundinnen.
Weil ich gerne direkt mit Menschen zu tun habe, sage ich. Menschen, denen man mit kleinen Nettigkeiten große Erleichterungen verschaffen kann. Die ein bisschen mehr Glück in ihrem Leben gut brauchen können. So einer einsamen, eingeschüchterten Oma mit Oberschenkelhalsbruch bedeutet ein Lächeln von mir einen weiteren guten Tag, und ein Kind mit Hüftdysplasie muss vielleicht die ganze Nacht nicht weinen, wenn ich ihm den nass geschwitzten Rücken unter dem Plastikkorsett mit Baktolan aktiv einreibe.
Es ist natürlich nicht immer so einfach. Es gibt nicht nur nette Omas, glückliche Kinder und heiratswütige Scheichmütter, sondern leider auch die grimmigen Alkoholiker-Frührentner, die sich im Suff zum vierten Mal den Knöchel gebrochen haben. Es gibt Frauen mit 250 kg, die vor lauter Fett und kaputten Knien nicht mehr laufen können und es dann an mir auslassen.
Im Großen und Ganzen habe ich aber echt Glück mit meiner Arbeitsstelle. Ich habe mich gezielt bei einer rein orthopädischen Klinik beworben, wo das Allerschlimmste eine unheilbare Querschnittslähmung ist. Klar, das wünscht man sich auch nicht. Wir sind auch noch spezialisiert auf die kniffligen Fälle, wo die Leute froh sind, wenn hinterher unterhalb des Knies noch ein Stück Bein dran ist. Aber trotzdem, das richtige Elend findet sich bei uns selten. Eine Krebsklinik oder Palliativstation ist da eine ganz andere Nummer. Das könnte ich nicht.
Auch unter Orthopädie-Patienten gibt es natürlich Arschlöcher. Oder, um es etwas netter zu sagen, Patienten mit zeitlich-pflegerischem Mehraufwand. Besonders oft wird man von neuen Knien oder Hüftgelenken über 40 angemacht, die sich ihre Männlichkeit beweisen müssen. Nach dem Motto: Ich hab zwar eine neue Hüfte, aber darüber funktioniert’s noch wie bei einem jungen Hengst. Oder: Statt Joggen muss ich mich jetzt halt auf Pimpern beschränken. Alles schon gehört.
Der Typ „geiler Opa“ ist auch weiter verbreitet, als ich es zu Beginn meiner Ausbildung je gedacht hätte. Die Tatsache, von der Schwester mal die Bettpfanne gereicht bekommen zu haben, scheint für viele einen Freifahrtschein zu sämtlichen anderen Intimitäten darzustellen. Dass man hin und wieder einen Patienten beim Onanieren erwischt – geschenkt. Wo sollen sie auch hin mit ihren Trieben, Nächte im Krankenhaus sind lang. Dass man manchmal nachts um halb drei in ein Einzelzimmer geklingelt wird, um stolz eine Latte präsentiert zu bekommen – okay. Da lache ich drüber und geh wieder raus. Den Kerlen ist das am nächsten Tag auch meistens peinlich.
Aber körperliche Übergriffe gehen gar nicht. Ein einziges Mal bisher habe ich einem Patienten eine gescheuert. Das war so ein „geiler Opa“. Mitte 70, Schulterdyslokation. Ich, gerade 20, musste ihn waschen. Er hatte schon den ganzen Tag zuvor nicht mit anzüglichen Sprüchen á la „Wenn ich jetzt so alt wäre wie Sie, wüsste ich schon, womit ich Ihnen die Mittagspause versüße“ gegeizt. Und als ich ihm dann gerade die Haare einshampoonierte, packte er mich mit der gesunden Hand am Arm und zog mich zu sich in die Wanne.
Der Opa war ein schmächtiges Kerlchen mit nur einem funktionstüchtigen Arm, aber weil ich nicht damit gerechnet hatte, rutschte ich voll bekleidet ins Wasser. Der Schaum spitzte nur so. Meine Schuhe, mein Pieper, alles wurde nass. Ich hatte einen Adrenalinschock. Kaum saß ich dem grinsenden Alten in der Wanne gegenüber, holte ich aus und zementierte ihm eine, dass seine Hängebacken und sein Zahnersatz nur so flogen.
Seither weigere ich mich, Männer über vierzig zu waschen. Meine Kolleginnen akzeptieren das glücklicherweise. Es gibt da noch zwei kräftige Schwäbinnen mit erwachsenen Kindern, die ihre resolut-dominante Ader gern an meiner Stelle an den Opas auslassen.
Das führt hin und wieder zu der Situation, dass der eine Patient im Doppelzimmer von mir und der etwas ältere von einer der Schwäbinnen gewaschen wird. Daraus entwickeln sich manchmal lustige Rivalitäts- und Eifersuchtsdramen, weil die Männer ja nicht verstehen, warum sie meine Waschgunst nicht genießen dürfen (Ich würde mich ja auch lieber von mir selbst als von Astrid oder Vroni waschen lassen. Astrid und Vroni sind herzliche Damen, solange man bekleidet ist).
Gerade hatten wir das Problemchen wieder: Das Doppelzimmer neben der Scheichmutter. Zwei Privatpatienten, der eine um die dreißig, der andere zweiundvierzig Jahre alt. Grundsätzlich mag ich Privatpatienten, weil sie sich ein bisschen bevorzugt fühlen (was sie auch sind, da muss man ehrlich sein). Und Leute, die sich bevorzugt fühlen, sind meistens besser drauf als solche, die sich bei jeder Schmerztablette aufs Sparbrötchen reduziert sehen.
Aber diese beiden waren eine Zumutung. Olaf Kaczmarczyk und Nicolas Rammeltsmeier. Ich werde ihre Namen nie vergessen, weil sie so gut zu ihnen passten. Beide schwere Radunfälle – der eine mit dem selbst gebauten Liegefahrrad in einen Bauzaun gerauscht, der andere mit dem Mountainbike verschätzt und gegen einen Felsen gekracht. Sie hatten in derselben Woche vom selben Arzt neue Kniescheiben implantiert bekommen, doch ansonsten hätten die beiden Typen nicht unterschiedlicher sein können. Der Jüngere, der Liegefahrradbastler, war so eine Art Cyborg. Er trug den ganzen Tag eine merkwürdige Brille, die mit einem elastischen Band ganz fest am Schädel saß und aussah wie eine zugeklebte Skibrille. Dazu wackelte er mit dem Kopf und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum wie ein Dirigent. Wahrscheinlich war das so ein Technikspielzeug mit 3D und so. Ich halte nichts von Technikscheiß, ich komme ja mit der echten Welt kaum zurecht!
Der arme merkwürdige Vogel war auch noch mit dem selten holprigen Namen Kaczmarczyk geschlagen. Wenn der sich irgendwo vorstellte, musste er immer erst mal zwei Minuten buchstabieren. Wohl deshalb sagte er kein Wort. Manchmal brummte er kurze englische Befehle, die sich aber an niemanden Speziellen richteten: „Turn left“, „Exit now“. Sonst war er scheinbar wirklich taubstumm.
Der Ältere dagegen, der mit dem Mountainbike, konnte über jede Minute froh sein, in der ich ihn nicht erwürgte. Oder eine andere Schwester. Außer blöde Witze zu reißen konnte der gar nichts. Um die Aufmerksamkeit einer Schwester auf sich zu lenken, machte er sabberige laute Kussgeräusche. Ich war wirklich froh, den nicht auch noch nackt sehen zu müssen.
Mir genügte, dass der Cyborg nicht mal beim Waschen seine Daddelbrille abnahm. Wahrscheinlich war ihm seine Hilflosigkeit mir gegenüber peinlich, oder er wollte nicht erkannt werden. Wegen seiner gigantischen Kniestreckschiene durfte er das Bett nicht mal verlassen, um sich zum Pinkeln zu schleppen. Davon abgesehen war er unter seinem Schlafanzug erstaunlich hot. Unauffälliger, aber eindeutig vorhandener Sixpack, lange, muskulöse Beine, starke Arme. Der musste vor seinem Unfall schon länger Fahrrad gefahren sein. Ein bisschen erinnerte er mich an einen Soldaten in den ersten Wochen der Grundausbildung. Einerseits schon extrem männlich, aber gleichzeitig noch kükenmäßig unbeholfen. Er trug die Haare sportlich raspelkurz, damit sie unter der komischen Brille keine Schwierigkeiten machten. Sie waren mausbraun und wirkten wie Maulwurfsfell. Eigentlich hätte ich gerne mal drüber gestreichelt, um herauszufinden, ob sie sich auch so anfühlten. Aber natürlich streichelt eine anständige Krankenschwester keine Patienten, deren Alter im zweistelligen Bereich liegt.
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