Am nächsten Tag suchte ich dieses Geschäft »Fülle in Hülle« auf. Die Puppen im Schaufenster trugen höchstens Gr. 40, was mich zutiefst beunruhigte. Ich war froh, als ich sah, dass die Verkäuferin mindestens zwei Konfektionsgrößen größer trug als ich jetzt brauchte und nahm all meinen Mut zusammen, um folgenden Satz herauszuquetschen: »Ich muss mich neu einkleiden und suche etwas Modernes in meiner Größe.« Ohne das ich es bewusst tat, brachte dieser Satz die Verkäuferin dazu, meine Konfektionsgröße zu erraten (was diese Berufsgruppe wohl gern machte und mich früher stets erfreute). »Ich schätze mal, Sie brauche höchstens die 44?«, meinte sie und lächelte mich freundlich an. Darauf war ich nicht vorbereitet. »Äh, ja, die 44 bis 46 brauche ich. Das heißt oben herum brauche ich eher die 46, bei den Hosen reicht die 44«, nuschelte ich. Sie verstand mich trotzdem und lachte irgendwie gemütlich. »Na, andersherum wäre es nicht so angenehm, nicht wahr?« Ich war ja nicht so schnell mit dem Begreifen, vor allem, wenn ich abgelenkt und angestrengt war. »Nee, wäre es wohl nicht«, meinte ich salopp und als ich den Satz ausgesprochen hatte, verstand ich ihre Bemerkung erst. (Sie hatte das wohl durchaus freundlich gemeint, mich nicht mit einer Birne zu vergleichen!). »Was haben Sie sich denn so vorgestellt?«, fragte die Verkäuferin besonnen und sah mir direkt in die Augen. Ich bemerkte, dass sie jene mütterliche Ausstrahlung besaß, die ich an anderen Frauen mochte (nur eben nicht an mir) und fasste etwas mehr Vertrauen zu ihr. »Nun ja, ich habe im letzten Jahr zugenommen, hatte früher die Größe 38 und würde jetzt gern etwas Weiteres tragen, was mein Gewicht kaschiert.« Die Frau sah mich an, als hätte ich gerade offenbart, dass heute noch die Welt untergehen würde. Ich bemerkte, wie sie schluckte und überlegte. »Ich möchte Ihnen ja nicht zu nahe treten, junge Frau«, begann sie und sprach betont langsam, »aber wir führen hier Größen bis über die 54 hinaus. Die Frauen, die diese Größen tragen, wollen tatsächlich kaschieren, was auch in Ordnung ist. Aber Sie, mit der 44 oder 46, müssen doch nichts kaschieren. Sie können doch ihre Weiblichkeit betonen.« Sie sprach noch weiter, aber ich verschwand schon wieder in meinem Tunnel. Ich hörte nur Weiblichkeit und war enorm gestresst. Irgendwie gelang es ihr jedoch, dass ich wenigstens meinen Kopf wieder aus der Öffnung des Tunnels steckte.
»Sie sind wesentlich größer als der Durchschnitt der Frau von heute und man sieht Ihnen die Konfektionsgröße gar nicht an.« Das war Balsam für meinen Ohren und so kroch ich vollends aus dem Tunnel hervor. Dabei überlegte ich kurz, ob Verkäuferinnen vielleicht eine psychologische Ausbildung hatten, was ich bisher noch nie festgestellt hatte. Als ich noch dünn war, sagte mal eine Verkäuferin zu mir: »Sie brauchen zwar nur die 36/38, aber Sie haben ausladende Hüften. Solche Kleidung führen wir hier nicht.«
Damals flüchtete ich aus diesem Laden, man sah mich dort nie wieder und ich bekam diesen Satz auch nie aus meinem Kopf. Ich begann, meine ausladenden Hüften zu verachten und versuchte fortan, sie zu verbergen.
Jedenfalls stand hier ein offensichtlich außergewöhnlich nettes Exemplar dieser Zunft vor mir und ich beschloss, aus diesem Einkauf einiges zu lernen. »Ach, ich weiß nicht, ich war früher immer schlank und kann noch nicht so richtig damit umgehen. Ich möchte wirklich lieber erst einmal etwas, was nicht so am Körper anliegt, will mich einfach wohler fühlen.« »Das verstehe ich sehr gut«, meinte die nette Dame und tätschelte meinen Arm. »Kommen Sie doch mal mit. Ich zeige Ihnen mal einiges in dieser Größe und Sie können in Ruhe anprobieren und auswählen. Es ist niemand weiter im Laden und Sie haben alle Zeit der Welt. Die Kleidung ist so wichtig im Leben einer Frau und gerade in unserem Alter legen die Frauen besonderen Wert auf ihr Äußeres.« Upps! Der erste Teil ging noch runter wie Öl. Doch bei dem letzten Satz begann es in meinem Kopf plötzlich verdächtig zu hämmern. (›In unserem Alter‹, sagte sie? Diese Frau ist ganz sicher über 50 und ich noch nicht einmal Mitte 40! Das sind mindestens acht Jahre! Da gibt es wohl erhebliche Unterschiede!) Gerade war ich dabei, in meinen geliebten Tunnel zu gleiten, da sagte die Frau: »Nun ja, Sie sind gewiss jünger als ich und können sich mehr Extras gönnen«. Und wieder lächelte sie gütig. Sie wirkte ruhig und ausgeglichen und so hielt ich mich an der Kabinentür fest, um nicht wieder im Tunnel zu verschwinden.
Ich suchte mir zunächst zwei Ponchos aus: einen dunkelbraunen und einen grauen. Ich mochte die Farbe Grau nicht, sie ließ mich blass und müde wirken. Jetzt war mir alles gleich, Hauptsache, es war weit und geräumig. Man packt ja auch keinen Bus in die Garage eines Motorrades! Die Verkäuferin sah mich ein wenig traurig an, als ich mir diese zwei Teile griff und gesenkten Kopfes auf die Kabine zuging. Sie versuchte, mich aufzuheitern: »Hier, diese zwei Sweatshirts kann ich Ihnen noch empfehlen. Die können Sie unter die Ponchos ziehen. Die Farbe hellt das Bild etwas auf.« Nun ja, den Wink mit dem Zaunpfahl konnte ich diesmal gleich verstehen, denn ich tendierte beim Anblick der Ponchos zur Trübsinnigkeit. »Die Pullover liegen an. So können Sie die Ponchos super bequem darüber tragen und nichts stört Sie darunter.« Im Spiegel erblickte ich meinen verbitterten Mund, sah die alternde Frau im Spiegel böse an und steckte ihr die Zunge raus. (Bist du hässlich geworden, verdammt noch mal, wie kann so was sein? Wie konntest du nur in so kurzer Zeit zum wehmütigen Fleischklops mutieren?) Das alles war mir zu viel. Ich drehte dem Spiegel den Rücken zu und betrachtete das erste enge, fliederfarbene Longshirt näher. Auf dem Schild stand: »EU Gr. 46/48«. »Das ist doch die 46/48!«, rief ich entsetzt aus der Kabine heraus und hielt mir, erschrocken von der eigenen Spontanität, sofort die Hand auf den Mund. »Ja, aber die fällt kleiner aus und da Sie so groß sind, brauchen Sie es länger«, beruhigte mich die Frau.
»Okay«, meinte ich kleinlaut und zog es mir über, immer noch den Rücken zum Spiegel gewandt. (Es ist doch noch schlimmer, dass ich so groß bin. Wenn ich klein und dick wäre, würde ich nicht so auffallen. Viele Frauen sahen so aus. Aber groß und dick, das ging gar nicht. Aber das verstand die Frau nicht.) Ich sah mich nicht an, sondern zog geschwind den Poncho drüber. »Und? Kommen Sie klar?«, rief die Verkäuferin, die scheinbar direkt vor meiner Kabine stand. Warum müssen sie das immer tun? Warum fragen sie solche überflüssigen Sachen wie »Kommen Sie klar?« oder »Brauchen Sie noch etwas?« Womit um Himmels Willen sollte ich denn beim Anprobieren nicht klarkommen oder was sollte ich beim Anprobieren noch brauchen? Wollte sie mich anziehen? Warum ließen die einen nicht in Ruhe anprobieren und raubten einem jede Möglichkeit, sich mit den Sachen anzufreunden? Ich war doch kein Mann, der in ein Geschäft ging, weil er einen Bierbauch mit sich herumschleppte, die Pullover in der XXL drüber streifte, »alles klar« sagte, zur Kasse ging und bezahlte. Ich war eine Frau und musste eine Beziehung zu den Sachen aufbauen. Sie sollten ein Teil von mir werden. Als ich meine wunderschönen Sachen meiner Schwägerin schenkte, gab ich einen wichtigen Teil von mir weg, sozusagen den Hauptteil. Es war wie ein kleiner Tod. Jetzt musste ich mich neu binden – an neues Material, an neue Gerüche, neue Farben, neue Schnitte, neue Größen. Warum ließen sie einem nicht die Zeit für den Aufbau dieser neuen Beziehungen, in Gottes Namen? »Ja, ich komm klar«, brummte ich aus der Kabine und zog Grimassen wie ein bockiges Kind. Sie störte mich tatsächlich bei meiner intensiven Kontaktaufnahme mit dem Neuen, mit dem sich vielleicht einmal mein Körper im Einklang befinden sollte.
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