Der Staat Singapur investiert eine Milliarde US-Dollar jährlich ins »mid-career learning.«
Und was die Substituierbarkeit herkömmlicher Tätigkeiten anbetrifft, so haben die neuen Technologien das Potenzial, Unternehmensprozesse vollständig zu verändern. Viele Aufgaben, die Mitarbeiter heute noch tagein, tagaus erledigen, können in Zukunft vermehrt automatisiert werden. Tim Höttges, CEO der Deutschen Telekom hat 2016 der Wochenzeitung Die Zeit gesagt: »Die klassischen physischen Arbeiten werden auf lange Sicht komplett durch Maschinen erledigt werden, davon bin ich zutiefst überzeugt.«
Ein Branchenüberblick, auf Basis der Daten des IAB, zeigt, was in Deutschland möglich ist. Aus technologischer Sicht. Ob es wirtschaftlich und ethisch sinnvoll ist, muss jedes Unternehmen für sich genau prüfen. Das Potenzial erscheint immens.
Ein interessantes Einzelbeispiel nennt Merck-CHRO Dietmar Eidens in diesem Buch (siehe Seite 57): Eine künstliche Intelligenz namens Elenoide. Sie wurde im Sommer 2019 von Merck am Standort Darmstadt eingesetzt, um Mitarbeiter in einer alltagsnahen Arbeitssituation mit dem digitalen Fortschritt vertraut zu machen, speziell mit der KI-Technologie. In der ersten Phase hat Elenoide, diese künstliche Intelligenz mit menschenähnlichem Aussehen und Verhalten, in der Interaktion mit 300 Merck-Mitarbeitern ihr Können – und ihre Grenzen – bewiesen. In der zweiten Phase wird Elenoide die Aufgaben eines PMO, eines Project Management Office, übernehmen, wie etwa Terminüberwachung, Finanzströme registrieren, Datenanalysen unterschiedlicher Art vornehmen. Allesamt Aufgaben, die heute Mitarbeiter mit umfangreichen Excel-Tabellen und PowerPoint-Charts erledigen.
In der Wirtschaftswissenschaft ist schon lange bekannt, dass neue Technologien wie Maschinen und Roboter die Wirtschaft nicht stetig und allmählich infiltrieren, sondern eher in Schüben – und diese Schübe sind in Krisen besonders heftig.
Ein Indiz für krisenbedingte Automatisierung entdeckten Nir Jaimovich von der Universität Zürich und Henry Siu (Universität von British Columbia) in einer Studie aus dem Jahr 2018. Darin verglichen sie die Folgen schwerer Rezessionen von 1991 bis 2009 – und bemerkten: Nach einigen Jahren hatte sich die Konjunktur insgesamt wieder erholt. Die Zahl der Arbeitsplätze allerdings war noch Jahre später niedriger als vor der Krise. Und das lag überwiegend daran, dass gewisse Tätigkeiten nicht mehr gebraucht wurden: 88 Prozent aller Arbeitsplatzverluste betrafen demnach Routinejobs – solche also, die sich relativ leicht automatisieren ließen.
Branche |
Funktion |
Haupttätigkeiten (Beispiele) |
Substituierbarkeit1 |
Durchschnittlicher Personalaufwand2 in 1000 Euro/Jahr |
Anzahl Beschäftigte in Deutschland |
Banken/ Versicherung |
Schadenssachbearbeiter |
Anspruchsprüfung, Schadens-/Leistungsfälle, Kundenbearbeitung, Versicherungsrecht |
83 % |
55 |
137 124 |
Automobil/Zulieferer |
Fahrzeugbaumechaniker |
Karosserien, Baugruppen und Fahrgestelle konstruieren und herstellen, ein-, auf- und umbauen, Qualitätssicherung und Arbeitsplanung |
80 % |
36 |
333 896 |
Pharma |
Pharmareferent |
Arzneimittelinformation, Verkaufsförderung, Kundenberatung/-betreuung, Arzneimittelrecht |
50 % |
61 |
22 696 |
Chemie |
Kunststoff-Techniker |
Kunststoffteile entwerfen und konstruieren, Werkzeuge konstruieren, Fertigung, Produktion und Montage planen und überwachen |
67 % |
49 |
3703 |
Logistik/ Transport |
Fachkraft Logistik |
Kosten- und Leistungsrechnung, Supply-Chain-Management, Lagerverwaltungssysteme, Distributionssysteme einsetzen, Lagerorganisation |
62 % |
32 |
458 571 |
Energie |
Ingenieur erneuerbare Energien |
Entwicklung, Planung, Betreiben und Überwachung Anlagen zur Nutzung regenerativer Energiequellen |
72 % |
66 |
1082 |
Telco |
Systemtechniker/-in (Telekommunikationstechnik) |
Einrichtung und Vernetzung IT-Systeme, Konzeption und Optimierung Internet- und Mobilfunksysteme, Wartungs- und Supportarbeiten |
88 % |
56 |
39 345 |
Handel |
Sales Manager |
Verkaufsaktivitäten, Planung, Steuerung von Absatzaktivitäten im Rahmen von Unternehmens- beziehungsweise nach Zielvorgaben. |
25 % |
70 |
66 373 |
Konsumgüter |
Produktentwickler |
Entwicklung Produktideen und Prototypen, Konzeption Produkte und Begleitung bis zur Markteinführung |
36 % |
69 |
208 290 |
Quelle: IAB-Daten 2018; HUMAN-Analyse. 1 Substituierbarkeitspotenzial eines Berufes = Anteil der in diesem Beruf typischerweise zu erledigenden Aufgaben, die bereits heute automatisiert werden können. 2 Personalaufwand beinhaltet Lohn, Gehalt, Altersvorsorge sowie soziale und steuerliche Abgaben |
Eine ähnliche Beobachtung machten ebenfalls im Jahre 2018 die Ökonomen Brad Hershbein (W. E. Upjohn Institute for Employment Research) und Lisa Kahn (Universität von Rochester). Sie analysierten für ihre Studie 87 Millionen Online-Stellenanzeigen, die zwischen 2007 und 2015 veröffentlicht worden waren. Das Ergebnis: Unternehmen in krisengeplagten Regionen ersetzten Beschäftigte mit automatisierbaren Routinetätigkeiten durch eine Mischung aus Technologie und höher qualifizierten Kandidatinnen und Kandidaten.
Aber es gibt auch andere Sichtweisen. Der renommierte Ökonom Daron Acemoglu resümiert: Wer möglichst schnell auf Roboter setzte, hatte langfristig sogar mehr Beschäftigte. Acemoglu: »Wenn Unternehmen frühzeitig Roboter einsetzen, expandieren sie auf Kosten ihrer Konkurrenten, deren Kosten nicht sinken.«
Ein beredtes Beispiel dafür liefert Amazon. Der Onlineversandhändler hat die Zahl der Roboter in seinen Lagern im vergangenen Jahrzehnt von 1400 auf etwa 45 000 gesteigert. Und die Zahl der Beschäftigten? Sie stieg von 2010 bis 2019 von 33 700 auf 798 000.
Wer indes seinen künftigen Personalbedarf nur wenig vorausschauend plant, dem droht eine besondere Gefahr. Diese Gefahr liegt für viele Unternehmen darin, dass sie fortlaufend frei werdende Stellen für die gleichen Tätigkeiten mit den gleichen Qualifikationen besetzen und dadurch ihr Problem perpetuieren.
So besetzen die Top-100-Unternehmen in Deutschland im Schnitt jährlich 15 Prozent ihres Personals aufgrund von Fluktuation, Verrentung und Wachstum neu. Eine Beispielrechnung macht klar, was das bedeutet. Nehmen wir an, eine Versicherung plant, pro Jahr rund 20 000 frei gewordene Positionen neu zu besetzen. Bei durchschnittlichen Kosten pro Beschäftigtem von 100 000 Euro kommt eine Summe von jährlich zwei Milliarden Euro zusammen.
Also lautet die Kernfrage, ob das Unternehmensmanagement solche Milliardensummen lieber in Neueinstellungen investieren will, die die Transformation und neue Geschäftsstrategien unterstützen, oder soll weitergemacht werden wie bisher und sollen neue Stellen eins zu eins besetzt werden wie die bisherigen? Kurz: Stellen wir weiter Schadenssachbearbeiter ein oder Machine-Learning-Ingenieure, die einen Algorithmus bauen?
Workforce, Kosten und Wettbewerbsfähigkeit
Nicht zuletzt das Kostenargument ist eines, das Unternehmenslenker zu weitsichtigerer Personalplanung und wirklichem Umbau ihrer Personalstruktur bewegen sollte. Dass dafür Bedarf besteht, zeigt auch eine Befragung, die wir im September und Oktober 2020 unter 252 Vorständen deutscher Unternehmen vorgenommen haben.
—74 Prozent sind der Meinung, dass sich ihr Unternehmen bis 2025 generell transformieren muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
—17 Prozent gaben an, dass sie dafür die komplette Personalstruktur ändern müssen, 60 Prozent, dass diese zumindest teilweise geändert werden muss.
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