Über den Autor
Alexander Sperling, Jahrgang 1989, hat Deutsch, Geschichte und Sozialkunde für das gymnasiale Lehramt in München und Oslo studiert. Nach dem 2. Staatsexamen begann er eine Promotion über die Dystopie der Gegenwart. Nebenher engagiert er sich politisch und schreibt für unterschiedliche Medien. Er ist Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes.
Über die Printausgabe
Die Printausgabe ist nachhaltig und klimapositiv gedruckt. Mehr Informationen dazu sind auf der letzten Seite des Buches zu finden.
Glashaus
effekt
Alexander Sperling
Ein Zukunftsroman
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
1. Auflage 2020
Copyright © 2020 &Töchter UG (haftungsbeschränkt),
München
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.
Umschlaggestaltung: Sigl Affairs, München
Lektorat: Laura Nerbel & Sarah Zechel, &Töchter
Satz: Sarah Zechel, &Töchter
ISBN 978-3-948819-49-1
Auch als Printausgabe erhältlich.
www.und-toechter.de
Für Janina
Inhalt
Giftstoff-Skandal weitet sich aus
Innenansicht
Ist das Kunst oder muss das weg?
Die Verwandlung
1999/2000
Moral ist …
I was a girl who sang the blues
BErliner Allgemeine zeitung
04.02.2048
Giftstoff-Skandal weitet sich aus
Inzwischen über 100 Fälle von Fehlbildungen bei Ungeborenen bekannt / Politische Auswirkungen bis auf die Bundesebene möglich
Mannheim
Im Skandal um die mutmaßlich illegal entsorgten
Fabrikstoffe (wir berichteten) treten immer gravierendere Folgen zutage. Inzwischen sind bei speziellen medizinischen Check-ups in der Region Mannheim/Worms über einhundert Fälle vorgeburtlicher Fehlbildungen festgestellt worden. Bei den betroffenen Ungeborenen ist dabei die Ausbildung des Schädelknochens im Mutterleib gestört, meist fehlt das komplette Scheitelbein. Die Aufgabe dieses sogenannten Schädeldachs liegt im Schutz der oberen Hirnregionen, die bei diesen Babys nun lediglich durch eine dünne Hautschicht bedeckt sind.
Inzwischen ist auch eine achtköpfige Expert*innengruppe des Boston University Medical Campus in Mannheim eingetroffen, um den medizinischen Krisenstab zu unterstützen. Unter Hochdruck wird nach Wegen gesucht, die betroffenen Föten möglichst geschützt auszutragen, schonend zu entbinden und anschließend zu stabilisieren. Dennoch muss in vielen Fällen mit
lebenslangen Beeinträchtigungen gerechnet werden, auch mindestens sieben Totgeburten haben sich in diesem Zusammenhang bereits ereignet. Alle Schwangeren, die im letzten Jahr das beliebte Naherholungsgebiet um den Lampertheimer Altrhein besucht haben, fordert das Gesundheitsministerium dringend auf, sich fachärztlich untersuchen zu lassen, ansonsten aber Ruhe zu bewahren.
Unterdessen sind die polizeilichen Ermittlungen auf dem ehemaligen Fabrikgelände des bis 2035 existierenden Unternehmens CarFinishToGo abgeschlossen. Wie aus Polizeikreisen zu erfahren war, hat sich dabei der Verdacht auf eine Verunreinigung der umliegenden Gewässer durch ausgetretene Autolacke erhärtet. In einer Sandgrube unweit des Altrheins seien zahlreiche Behälter mit toxischen Inhalten sichergestellt worden, teilweise hätten sich darin jedoch nur noch die Reste der mutmaßlich ausgelaufenen Substanzen befunden. Ein sichtlich aufgebrachter Polizeibeamter, der namentlich nicht genannt werden will, sprach gegenüber dieser Zeitung von einer »unglaublichen Sauerei«.
Die Vernehmung ehemaliger Mitarbeiter*innen des Betriebs dauere in der Zwischenzeit weiter an, wie die Staatsanwaltschaft vermeldete. Juristische Konsequenzen sind dennoch unwahrscheinlich, da der Eigentümer und alleinige Geschäftsführer der Firma, Heinrich Dransfeld, vor knapp vier Jahren verstorben ist. Des Weiteren erschweren gesetzliche Verjährungsfristen eine gerichtliche Aufarbeitung.
Konsequenzen kündigen sich dagegen auf politischer Ebene an: In Mannheim gründete sich gestern die Geschädigtengemeinschaft Altrhein, die nach eigenem Bekunden bestrebt ist, zusammen mit zahlreichen anderen Umwelt-Opferverbänden eine Bundespartei ins Leben zu rufen. Für den 1. März ist in Berlin ein Kongress unter dem Motto Gerechtigkeit jetzt! geplant, auf dem sich die entsprechende Parteigründung vollziehen soll.
Zum Sprecher der neu gegründeten Geschädigtengemeinschaft Altrhein wurde Tristan Trautmann gewählt, dessen Tochter vor einigen Wochen ebenfalls mit einem stark verkümmerten Scheitelbein zur Welt gekommen ist. Er sagt: »Natürlich wird nichts, was wir nun auf politischer Ebene tun, dazu beitragen, dass meine Tochter gesund wird oder dass sie einmal ein normales Leben wird führen können. Aber wir leiden nicht nur, weil wir persönlich Betroffene sind. Nein, wir leiden auch unter der gesamtgesellschaftlichen Ungerechtigkeit, dass aktuell jene Leute ungeschoren davonkommen, denen vor ein paar Jahrzehnten alles egal war.«
Alexa Wilhelm, die Sprecherin des einflussreichen Verbandes ehemaliger norddeutscher Grundstücksbesitzer*innen ergänzt: »Der jüngste Vorfall in der Region Mannheim hat das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Mithilfe der neuen Partei wollen wir nun endlich diejenigen Personen zur Verantwortung ziehen, die Verantwortung tragen.«
Die konkreten Forderungen der in Gründung befindlichen Partei sind noch unklar, eine Blitzumfrage bescheinigt ihr für die im Spätherbst anstehende
Bundestagswahl jedoch schon jetzt Chancen, die 5%-Hürde überspringen zu können. Ob sich die neue Partei in einem solchen Fall eher dem liberalen Lager um Bundeskanzler van Dyke oder dem nationalkonservativen um Lilienthal zuwenden würde, ist zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch völlig offen.
Tom Bohnenkamp
www.baz.de/giftskandal/tombohnenkamp
Wellenförmig schwillt das erwartungsvolle Gemurmel auf den Zuschauerbänken an und ab. In den ruhigeren Momenten meint Erica dann jedes Mal, den Lärm der zwei polizeilich voneinander getrennten Demonstrationsblöcke noch bis hier drinnen hören zu können, als eine Art dumpfe Geräuschbrandung in der Ferne. Die Aufregung im Vorfeld des Prozesses ist so groß gewesen, dass sogar Dingo, Ericas bislang stets unpolitischer Freund, zur Demo kommen wollte.
Ein Kollege setzt sich auf den Stuhl neben sie, legt sein OCD geschäftig auf den Tisch und gibt den Befehl zum
Unfold. Er dürfte Ende 30 sein, hat braunes, leicht gewelltes Haar und eine sehr intelligente Brille, durch die er auf den blitzschnell aufgebauten Bildschirm seines teuren Office-Complete-Device blickt. Er grüßt nicht herüber, nimmt keine Notiz von ihr. Erica lässt den Blick trotzig durch den Al-Gore-Saal wandern. Sind das nun eher 500 oder 2000 Leute im Publikum? Oder noch mehr?
Sie befindet sich auf der Pressetribüne, die die ganze rechte Seite des U-förmigen Oberrangs einnimmt. Auf der gegenüberliegenden Seite sitzen Zuschauer neben jeder Menge nach unten gerichteter Kameras und Scheinwerfer. Die besten Plätze oben, auf der kurzen Seite des U und mit geradem Blick zur Bühne, sind für die Ehrengäste reserviert.
Erica kann sich nicht sattsehen an dem verrückten Anblick, der sich dort bietet: Bundeskanzler Nils van Dyke tatsächlich in der ersten Reihe direkt neben TT, Tristan Trautmann, dem Anführer der PfG. Kanzler van Dyke hat seine undurchdringlichste Miene aufgesetzt, aber Erica findet trotzdem, dass er aussieht, als hätte er einen sehr bitteren Geschmack im Mund. TT dagegen blickt stoisch, weder mit einem Siegeslächeln noch sorgenvoll, eher konzentriert.
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