Jakob ahnt, dass es mehr geben muss. Er beginnt in jener Nacht davon zu träumen, wie es wäre, Geborgenheit und Sicherheit in sich zu spüren. Wie ich. Oder all die anderen vor mir. Wir ahnen, dass es mehr geben muss, dass wir ganz in uns zu Hause sein können. Diese Sehnsucht treibt uns. Kein Wunder: Gott selbst hat sie in unser Herz gelegt.
Gott gestaltete die Heimat für die Urmenschen Adam und Eva. Die perfekte Schöpfung war das Zuhause von Mensch und Gott. Die ersten Menschen waren ganz selbstverständlich zu Hause. Echtheit und Sicherheit kennzeichneten ihr Leben im Paradies. Sie waren nackt, weil es auf Äußerlichkeiten gar nicht ankam. Im Garten Eden begegneten sie ganz selbstverständlich dem Heimatstifter. Alles, was Heimat ausmacht, war dort vorhanden: der Geruch von reifem Obst, das Gefühl der Sicherheit, Geborgenheit, Identität und – Gott persönlich. Die Menschen waren ganz sie selbst. Sie kannten sich aus und konnten alles benennen. Alles war perfekt. Deshalb hatten sie die Sehnsucht noch nicht. Sie erlebten Gott ganz nahe, spürten seinen Atem, hörten seine Stimme, kannten seine Schritte und verbrachten viel Zeit mit ihm.
Doch dann verrieten sie das alles. Sie vergaßen ihre Identität. Sie wollten Gott übertreffen. Und verloren sich selbst. Jetzt begann die Unsicherheit damit, sie vor sich herzutreiben. Eva und Adam mussten ihre Herzheimat genau wie ihre geografische Heimat verlassen. Sie wurden zu Herzensflüchtlingen.
Diese alte, weise Geschichte erzählt von dem Verlust unserer Identität und Herzheimat. Die nahe Verbindung Gott-Mensch und damit die Verbindung zum inneren Zuhause wurde zerschnitten. Wir haben uns seither selbst verloren (1. Mose 3, 24). Deshalb beginnt hier die Suche nach dem wahren Zuhause, die sich durch die Menschheitsgeschichte zieht.
Abraham, ein Urmensch und Nachfahre Adams, verlässt sein Vaterland, um eine andere Heimat zu finden (1. Mose 12, 1-3). Es kostet ihn viel. Er ist fremd und wird jahrelang als Flüchtling auf dem Weg sein. Er wird zum Nomaden ohne Zuhause. Auch seine Kinder und Enkel werden Heimatlose sein (1. Mose 15, 13). Wie Jakob. Doch es geht um mehr als einen geografischen Ort zum Wohnen.
Wie ein roter Faden setzt sich die Suche weiter fort: Jakobs Sohn Josef wird von den eigenen Brüdern verkauft. Er verliert seine Heimat, seine Familie und das Vertrauen ins Leben und sich selbst. Er erlebt den größten Verrat, den größten Verlust, der einem Menschen passieren kann. Und trotzdem findet er das Größere: Gott ist mit ihm (1. Mose 39, 2). Jahre später wird er seinen Brüdern das Leben retten. Josefs Geschwister, Kinder und Enkel finden Asyl in Ägypten. Dort werden sie zu einem großen Volk.
Aber dieses große Volk muss wieder fliehen. Die Geschichte des Auszugs, der Flucht und der Heimatsuche wird immer und immer wieder erzählt. Bis heute. Sie erinnert auch mich an die Herzensreise durch die Wüste meiner Seele auf der Suche nach einer Bleibe.
Endlich im Land der Sehnsucht angekommen, werden Könige gekrönt. Aus Zelten werden Häuser. Aus Häusern Paläste. Das Volk scheint ein Vaterland gefunden zu haben. Doch dann kommt der Krieg. Die Israeliten müssen die gefundene Heimat wieder verlassen. Gefangene werden gemacht und Deportationen finden statt. Die Einwohner des Nordreichs werden in ein fremdes Land verschleppt. Wieder einmal sind sie heimatlos. Die Suche hat nie aufgehört.
Es scheint, als ob Gott besonders mit Heimatlosen Geschichte schreibt. Mit Menschen, die um ihre Identität ringen. Doch eine Sache zieht sich durch die Jahrhunderte durch: Gott geht jeden Weg mit.
DIE GESCHICHTE DES HEIMATLOSEN GOTTES
Wir waren mehr als zwanzig Leute, vor allem Jugendliche. Und haben Sofas durch die Innenstadt geschleppt. Schwarze T-Shirts haben wir getragen mit der Aufschrift »Wo bist du zu Hause?«. Wir wollten zum Nachdenken anregen und hatten eine Gitarre dabei. Wir fragten die Leute: »Was ist dein wahres Zuhause? Wo kommst du an? Und wo trägst du ungeniert Jogginghosen? Wo ist dein Wohlfühlort, an dem Äußerlichkeiten nicht zählen? Wo erlebst du Geborgenheit?«
Einer, ein Hüne, ein Riesentyp mit schwarz gefärbten Haaren und einem dicken Kajalstrich unter den Augen, stellte irgendwann die entscheidende Frage: »Mal ganz abgesehen davon, wo wir zu Hause sind: Wo ist eigentlich Gott zu Hause? Trägt der Jogginghosen?«
Eine gute Frage. Wo wohnt eigentlich Gott? Die Antwort kommt möglicherweise schnell. Im Himmel. In der Kirche. Oder fromm: »Dort, wohin man ihn einlädt.« Schon. Aber wenn ich mir die biblischen Geschichten anschaue, dann erscheint es mir manchmal so, als ob Gott selbst heimatlos wäre. Ist Gott ein Flüchtling? Das vielleicht nicht gerade. Aber er ist auf der Suche nach einem Zuhause. Ist er angekommen? Wo hat er Heimat gefunden? Treibt ihn nicht auch diese gewaltige Sehnsucht, die ihn unruhig macht und ihn bewegt? Deshalb kann man die Geschichte von eben noch aus einer anderen Perspektive erzählen.
Am Anfang bewegt sich der Geist Gottes auf dem Wasser. Es ist finster und leer und wüst. Einsam (1. Mose 1, 1-2). Gott schafft sich auf der Welt Heimat. Für sich. Und für Menschen. Die Ursprungsidee ist, dass Menschen und Gott zusammenleben. Das endet aber in der Flucht des Menschen. Sackgasse. Damit ist auch das Vaterland des Schöpfers zerstört. Und trotzdem oder gerade deswegen: Gottes Heimatsuche ist untrennbar mit der Suche des Menschen verbunden.
Deshalb begegnet Jakob in jener unbequemen Nacht dem heimatlosen Gott. Es ist ein Gott, der in Bewegung ist. Er ist ein Nomadengott. Ein Wandergott. Ein Gott, der zwischen Himmel und Erde auf eine Leiter klettert. Während seiner Zeit auf der Erde hat er weder ein Kopfkissen noch einen festen Platz zum Schlafen (Lukas 9, 58). Jakob lernt den Gott kennen, der in seine eigene Heimat kommt und dort weder erkannt noch aufgenommen wird (Johannes 1, 11). Der stirbt für die Sehnsucht, ein Zuhause bei den Menschen zu haben. Es ist der heimatlose Gott. Der an unbequeme Orte kommt (1. Mose 28, 10-22). Er ist besonders bei Flüchtlingen und Flüchtigen. Gott verspricht Jakob eine zukünftige Heimat. Er verspricht, bei ihm zu sein. Als Jakob aufwacht, wird ihm klar: »Hier wohnt Gott! Dieser Ort ist heilig« (siehe 1. Mose 28, 16-17). Dort an diesem unbequemen Ort und mitten auf der Flucht wohnt Gott.
Gott schreibt Geschichte mit einem Wandervolk. Er erinnert Abraham an das Große: »Ich bin es, der bei dir ist! Bei mir ist Heimat! Bei aller Einsamkeit: Ich bin dein Zuhause.« 2Deshalb wandert er mit. Mit dem Flüchtling Abraham. Seinen Enkeln. Und seinen Ururururenkeln und deren Kindern.
Irgendwann auf der großen Flucht heraus aus Ägypten beginnt das Volk der zwölf Stämme eine Wohnung für Gott zu bauen (2. Mose 40). Er soll ein sichtbares Zuhause bei ihnen haben. Und Gott selbst gibt die Bauanleitung. In einem tragbaren, auf- und abbaubaren Zelt will er wohnen! Die Völker um die Nomaden herum haben Tempel, Standbilder und große Heiligtümer. Der heimatlose Gott JHWH wohnt hingegen im Zelt! Seine Heimat ist beweglich. »Die Herrlichkeit des HERRN erfüllte die Wohnung« (2. Mose 40, 34). Auch später im Neuen Testament steht der Begriff »Herrlichkeit« für das göttliche Wohnen.
König David schämt sich eines Tages dafür, dass Gott im Zelt wohnt und er in einem Palast. Er möchte ihm einen Tempel, eine feste Heimat, geben (2. Samuel 7, 3). Gott entgegnet ihm: »Ich bin mit dir, wo auch immer du hingehst. Ich werde dir und deinen Kindern und Enkeln eine wahre Heimat schenken« (nach 2. Samuel 7, 10). Und er dreht den Spieß noch einmal herum: »Nicht du sollst mir ein Haus bauen, sondern ich werde dir ein Haus bauen« (2. Samuel 7, 11; HFA). Und dann kommt die Verheißung auf den, der kommen wird, der Hinweis auf den, der ewige Ruhe schenken wird. Auf den König, der bereit ist, den wahren Tempel, die Wohnung Gottes, die wahre Heimat, zu bringen.
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