Daniel Mylow - Greisenkind

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Emelie beschließt, an ihrem siebzehnten Geburtstag zu sterben. Eine seltene Krankheit lässt sie im Zeitraffer altern. Nur noch ein einziger Gedanke beschäftigt sie: Wie kann ich die Zeit anhalten?
Zusammen mit dem Außenseiter Fynn begibt sie sich in einem alten Leichenwagen auf eine abenteuerliche Reise …

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Greisenkind

Daniel Mylow

Roman

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www.net-verlag.deErste Auflage 2020 © Text: Daniel Mylow © net-Verlag, 09125 Chemnitz © Coverbild: ursprüngliche Idee: Katharina Fritzsche Quelle: shutterstock Eigentum: Daniel Mylow Covergestaltung, Lektorat und Layout: net-Verlag ISBN 978-3-95720-270-3 eISBN 978-3-95720-324-3

Das Leben ist in der Tat ein

kostbares Geschenk,

doch ich habe oft das Gefühl,

der falsche Empfänger zu sein.

Ren Hang, 2015

Inhalt

Kapitel 1 1 . EMELIE IST TOT. Auf dem Schreibtisch vor mir liegen ihre Tagebücher. Emelies Schrift erscheint mir wie ein taumelnder Flug über Hunderte von Seiten hinweg. Es ist die Schrift eines Menschen, der weiß, dass ihm nur noch sehr wenig Zeit bleibt. Die weißen Blätter sind voller Flecken, Risse, Knicke. Auf vielen Seiten ist die Schrift zerlaufen. Sind die Blätter nass geworden? Hat sie geweint? Ich weiß nicht, was sie wirklich gedacht und gefühlt hat. Ich weiß auch nicht, wie sie sich ausgedrückt hätte. Was sie noch gesehen und erlebt hat, wenn sie gerade nicht in ihre Hefte geschrieben hat. Vor mir liegt noch ein weiterer Umschlag. Er ist voller Fotografien. Emelie hat die Fotografie geliebt. Aber auf keinem dieser Bilder ist sie selbst zu sehen. Was kann ich schon anderes tun, als Leerstellen zu füllen? Als Emelie meine Stimme zu geben. Das ist alles, was ich tun kann. Alles, was ich in diesem unmöglichen Augenblick tun kann, ist, die Geschichte meiner Tochter zu erzählen. Ben Reemdron, Reykjavik im April 2015

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Über den Autor

1 .

EMELIE IST TOT.

Auf dem Schreibtisch vor mir liegen ihre Tagebücher. Emelies Schrift erscheint mir wie ein taumelnder Flug über Hunderte von Seiten hinweg. Es ist die Schrift eines Menschen, der weiß, dass ihm nur noch sehr wenig Zeit bleibt.

Die weißen Blätter sind voller Flecken, Risse, Knicke. Auf vielen Seiten ist die Schrift zerlaufen. Sind die Blätter nass geworden? Hat sie geweint? Ich weiß nicht, was sie wirklich gedacht und gefühlt hat. Ich weiß auch nicht, wie sie sich ausgedrückt hätte. Was sie noch gesehen und erlebt hat, wenn sie gerade nicht in ihre Hefte geschrieben hat.

Vor mir liegt noch ein weiterer Umschlag. Er ist voller Fotografien. Emelie hat die Fotografie geliebt. Aber auf keinem dieser Bilder ist sie selbst zu sehen. Was kann ich schon anderes tun, als Leerstellen zu füllen? Als Emelie meine Stimme zu geben. Das ist alles, was ich tun kann. Alles, was ich in diesem unmöglichen Augenblick tun kann, ist, die Geschichte meiner Tochter zu erzählen.

Ben Reemdron, Reykjavik im April 2015

2 .

Emelie

ICH MÖCHTE ÜBERALL sein. Ich möchte die Meere befahren, auf Friedhöfen spazieren gehen, Banken ausrauben, den Atlantik durchschwimmen, die höchsten Berge besteigen, unerforschte Arten entdecken, tanzen, zeichnen, Theaterstücke aufführen, die Hauptrolle in einem Kinofilm spielen, eine Familie gründen, Kinder haben. Ich möchte das älteste Lebewesen der Welt sehen und alle Tiere, die nur einen einzigen Tag leben, ich möchte mal auf einen Baum klettern, in einer Höhle übernachten, nachts am Strand sein, jeden Tag ins Kino gehen, Volksfeste besuchen, Liebhaber haben, alle Abenteuerbücher lesen und alle großen Philosophen. Ich möchte Dinge hören, die niemand anders hören kann; ich möchte mit den Steinen, Pflanzen, Tieren und Sternen reden können und alle ihre Gedanken in ein großes Buch übersetzen. Ich möchte einen Hund oder eine Katze nur für mich; ich möchte von einer Klippe ins Meer springen, in einer Wüstennacht die Sterne am Himmel zählen, einen Jungen so gernhaben, dass es in der Brust wehtut, wenn er nicht da ist. Ich möchte verliebt sein, ich möchte in einer großen Stadt leben und in einem kleinen Häuschen am Meer. Ich möchte mein richtiges Spiegelbild finden, eine Nacht auf dem Friedhof verbringen, nachts auf einer Landstraße fahren, und ich möchte, dass mein Vater zu mir zurückkehrt, und ich möchte meine Eltern immer bei mir haben.

Ich möchte viel länger leben, als ich darf. Ich würde gerne jemanden kennen, der das alles aufschreibt, was ich denke und was ich erlebe. Ich würde gerne wissen, wie es ist, alt zu werden. Und wie es sich anfühlt, sich Zeit dafür zu lassen. Zu spät.

Die Geschichte, die an meinem Grab erzählt wird, darf nichts mit mir zu tun haben. Es sollte eine Liebesgeschichte sein. Gerade, weil ich so wenig davon weiß. Wir wissen ja auch nie genau, wann wir verliebt sind. Aber wir wissen immer, wann es vorbei ist.

Mein Leben war genau so. Ja, eine Liebesgeschichte wäre wirklich schön. Auch wenn ich sie vielleicht gar nicht mehr hören würde. Wer weiß das schon.

Ich kenne nicht viele Liebesgeschichten. Vielleicht bin ich auch nicht alt genug geworden. Oder jemand erzählt die Geschichte von Fynn und mir. Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob … Ich weiß nicht, ob das hier wirklich eine Liebesgeschichte ist. Es ist meine Geschichte.

Alle sehen mich an. Ich denke immer, dass mich alle ansehen. Dabei sitze ich fast ganz allein im Bus. Ich muss erwacht sein. Irgendwo im lärmenden Nichts meiner inneren Monologe. Die Nachtluft streift durch die gezackten Silhouetten der Wipfel, während der Bus Allee um Allee hinter sich lässt. Wie ein dunkler Schwarm von Faltern tauchen die Gegenstände aus dem Scheinwerferlicht und verschwinden wieder in den Nebelfetzen. Hell erleuchtete Schaufenster. Vorübereilende Nachtschatten. Ein durch die Kurve schlingernder Wagen ohne Licht.

Es ist bald Mitternacht. Mir wird klar, dass ich wieder einen Tag weniger zu leben habe. Das ist nicht gerade etwas, das mich von anderen Menschen unterscheidet. Aber es wird vermutlich nicht so viele Leute geben, die sich entschieden haben, an ihrem siebzehnten Geburtstag zu sterben.

Der Bus hält. Endstation. Der Busfahrer fragt, ob er mir helfen kann. Ich schüttele den Kopf.

Vorsichtig nehme ich die Stufen ins Freie. Den Koffer ziehe ich hinterher. Mondlicht fällt auf den Schnee. Der Wald hinter den Wohnsilos ist schwarz, der Himmel leer und kalt.

Zweifelnd denke ich, dass der Winter nicht gerade die ideale Jahreszeit ist, um von zu Hause fortzugehen. Aber man geht ja fort, wenn einem danach ist. Und nicht etwa, wenn das Wetter gerade schön ist.

Solveig wartet wie verabredet.

»Emelie!«, begrüßt sie mich.

Sie ist die Einzige, die »Emelie« auf der letzten Silbe betont. Mit einer Bewegung greift sie nach dem Koffer, mit der anderen nimmt sie mich an die Hand.

Solveig hat mich beim Kinderarzt kennengelernt. Da ist sie als Arzthelferin beschäftigt. Das ist jetzt mehr als zwölf Jahre her. Sie weiß alles über meine Krankheit. Der Arzt war damals ratlos. Die eigentliche Diagnose stammt von ihr.

Sie sieht mich an. Ihr Blick zeigte vom ersten Moment an keine Abscheu. Kein Entsetzen. Nicht einmal Verwunderung.

In dieser Nacht lässt mich Solveig in ihrem großen Bett schlafen. Vorher zeigt sie mir, dass der Himmel nicht leer ist. Wir löschen das Licht.

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