Ein Mann sprang hoch, zog eine Mundharmonika aus der Hosentasche, spielte eine langsame, traurige Melodie und wiegte sich dabei in den Hüften. Nachdem die ersten Töne erklungen waren, wurde es still auf dieser Grasinsel, das Lachen verstummte, die Kinder hielten inne mit ihren wilden Spielen. Nur einen Moment später stand ein weiterer Mann auf, stellte sich neben den Mundharmonikaspieler, legte einen Arm um dessen Schulter, schaute hoch zum Himmel und sang; er sang deutsch mit einem starken Akzent, war aber gut zu verstehen.
„Im Schatten des Waldes, im Buchengezweig, da regt‘s sich und raschelt und flüstert zugleich. Es flackern die Flammen, es gaukelt der Schein um bunte Gestalten, um Laub und Gestein. Da ist der Zigeuner bewegliche Schar mit blitzendem Aug‘ und mit wallendem Haar, gesäugt an des Nils geheiligter Flut, gebräunt von Hispaniens südlicher Glut.“
Strophe für Strophe erklang, begleitet von der Mundharmonika. Nick lauschte. Das Lied gefiel ihm, regte in ihm etwas an. Seine Traurigkeit bekam einen Namen: Einsamkeit.
„Schwarzäugige Mädchen beginnen den Tanz. Da sprühen die Fackeln im rötlichen Glanz. Es lockt die Guitarre, die Cymbel klingt. Wie wild und wilder der Reigen sich schlingt!“
Die Stimme des Sängers wurde immer leiser und erstarb dann völlig; gleichzeitig mit den Tönen der Mundharmonika. Stille, sekundenlang nur. Nick hörte die Flammen knistern und das Knallen, wenn die Holzscheite zerplatzen. Dann setzte der Mundharmonikaspieler dort wieder an, wo er aufgehört hatte. Die Töne der Melodie füllten die Nachtluft, wurden schneller, hektischer. Kaskaden von Tönen liefen die Tonleiter rauf und runter.
Eine groß gewachsene Frau rief laut „ma bibe, Janko“, sprang hoch, warf die Arme in die Luft, klatschte in die Hände und stampfte im Rhythmus der Melodie auf den Grasboden. Selbst aus der großen Entfernung war ihre exotische Schönheit beeindruckend. Er starrte sie an, suchte die Augen, wie er es immer tat, wenn er einem Mädchen begegnete. Sie drehte sich leicht und elegant, zeigte für Momente ihr rassiges Profil mit der Hakennase. Er war gefesselt von dem Schauspiel, konnte den Blick nicht von der Frau lassen, die ihr Schultertuch wegwarf, ihre nackte Schulter zeigte. Ein Mann, der am Boden lag, den Kopf in die Linke gestützt, fing das Tuch auf, schwenkte es und lachte. Seine Worte waren für Nick unverständlich; die Leute um ihn herum aber lachten und einige Frauen klatschten. Die Stille wurde abgelöst von übermütigen Rufen, von lautem Lachen, von schneller und immer schneller werdender Musik, die der Mundharmonikaspieler mit einem heftig stampfenden rechten Fuß begleitete.
Wie frisch poliertes, schimmerndes Kupfer sahen die Schultern der Tänzerin aus, angeleuchtet vom Feuer, das aufloderte, als erneut Knüppel hinein geworfen wurden. Die Melodie wechselte, wurde fröhlicher und noch schneller, immer ungestümer. Rufe ertönten, anfeuernde Schreie erklangen. Die Tänzerin wirbelte um ihre Achse, stampfte immer schneller mit den Füßen. Sie blieb stehen, stieß nur noch mit den Füßen den Takt der Musik – und schaute ihn an. Er war sicher, dass sie nur ihn ansah. Ihre schwarzen Augen schienen sich an seinen festzusaugen. Er spürte ihre Kraft. Sie stand still, starrte ihn an, lächelte. Plötzlich sang sie, fand sofort den Ton der begleitenden Musik. Fremde Laute, mit rauchiger Stimme und fliegendem Atem gesungen. Die Männer und Frauen, die sie umringten fielen nach und nach ein, bildeten einen Chor, der mühelos die Mundharmonika übertönte. Sie ließ seine Augen los, drehte sich, reckte die nackten Arme zum Himmel. Armbänder klirrten im Rhythmus der Bewegungen.
„Zigeunerpack! Haltet Schnauze! Machen Ruhe!“, schrie aus einem der Fenster eine rau klingende Stimme.
Die Männer und Frauen auf dem Hügel ignorierten den Rufer, lachten und sangen weiter. Der Mann, der das Tuch der Tänzerin gefangen hatte, sprang auf, fasste sie um die Taille, wirbelte sie durch die Reihen der im Gras liegenden Menschen und fiel schließlich mit ihr ins Gras. Die Frau stieß einen kleinen Schrei aus, dann lachte sie; es war ein gutturales, ein so seltsames Lachen, dass es Nick im Nacken kribbelte. Männer und Frauen sangen das immer langsamer werdende Lied mit; niemand schaute hin zu den beiden Menschen, die ruhig nebeneinander lagen.
„Zigeunerpack! Ich rufen Polizei“, schrie ein Mann und dann knallte ein Fenster zu.
Nick stand da, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. Das hier war friedlich, fröhlich und niemand wurde bedroht. Er verstand nicht, warum die Leute aus der Siedlung sich so aufregten, wenn man von den Zigeunern sprach. Als drei Jungen, alle in seinem Alter, ihre Räder vor ihm stoppten und ihn herausfordernd anstarrten, drehte er sich um und lief zurück zum Ebertplatz.
Vor seinem Wohnblock spielten einige Jungen im Licht der Straßenlampe Fußball und er bog ab ins Unkrautfeld neben dem Spielplatz. Das Gras und die Brombeersträucher waren noch feucht; es störte ihn nicht, dass seine nackten Beine nass wurden. Hinter dem Buswartehäuschen hockte er sich hin und beobachtete das Haus.
Geschwungene Doppeltreppen, deren Stufen unten breiter waren als oben und deren zwei Hälften einen Stock über dem Souterrain an den Eingangstüren zusammentrafen, führten zu den Eingängen des langen Baus. Verdreckte Strahler beleuchteten den Eingangsbereich und die Treppen. Auf den Stufen vor seinem Eingang hockten, lagen und rekelten sich Scharen von Kindern. Ihr Geschwätz klang wie das strittige Gezwitscher der Sperlinge, die hinter ihm im Gebüsch hockten. Im Sommer blieben die oft bis Mitternacht auf den Straßen, wollten nicht in die stickigen Wohnungen, in denen die Alten vor dem Fernseher hockten.
Mädchen im Kindergartenalter warfen sich Bälle zu. Jungen, die höchstens die erste Klasse der Grundschule besuchten, boxten sich und alberten herum. Etwa zehn größere Jungen und Mädchen standen scheinbar gelangweilt herum, taten so, als bewachten sie eine lästige, unruhige Schafherde, traten schon mal nach einem, der sie zufällig berührte.
Die Eingangstür öffnete sich und ein Mädchen kam heraus. Er erkannte sie sofort. Es war Pat, die eigentlich Patrizia hieß, Patrizia Schäfer. Sie hatte lange blonde Haare, die meistens zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, und trug im Sommer grundsätzlich einen so kurzen Rock, dass er ihren Schlüpfer sehen konnte, wenn er hinter der Haltestelle lauerte und sie oben auf der Treppe stand. Sie war zwei Jahre älter als er, wie er von Janosch erfahren hatte. Das machte ihm nichts aus; den Unterschied konnte man kaum sehen. In seinem Bauch verspürte er jedenfalls immer ein kleines Flattern und Ziehen, wenn er sie sah.
„Das ist Liebe; so ist Liebe“, dachte er. „Ich liebe Pat. Ob sie mich lieben kann? Ob sie mich überhaupt schon bemerkt hat – richtig, so als Jungen?“ Diese Fragen beschäftigten ihn fast jeden Tag und er hatte sich schon hundert Möglichkeiten ausgedacht, wie er es erfahren konnte. Er war froh, dass sich der ‚Andere’ nie zu Pat äußerte. Bisher nicht! Pat ging ja auch nur ihn etwas an. Einmal hat er Pat zu dem Stern mitgenommen. Sie haben dort im Gras gelegen, sich an den Händen gehalten, geträumt und geschwiegen. Ihm war nichts eingefallen, was er ihr hätte sagen können. Erzählen würde er es ihr nie, das mit dem Stern auf den er immer floh.
Er schreckte aus seinen Gedanken auf, als er die Pfiffe der großen Jungen hörte. So war das immer, wenn sie Mädchen entdeckten, die sie anmachen wollten.
„He, sollen wir mit dir ins Wäldchen gehen? Ich zeig dir auch was“, rief einer mit heiserer Stimme.
„Hey! Pat, wo willst du hin? Hier spielt die Musik“, schrie ein bulliger Junge und baute sich so dicht vor Pat auf, dass Nick nur noch ihren seitlich hängenden Pferdeschwanz sah.
„Mach den Abpfiff, Dirk“, sagte Pat. „Was willst du von mir?“
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