„Meinst du, ich hätte Aids oder so was? Mann, wir sind doch gewaschen. Was soll dann der Scheiß? Da musste mal zu uns kommen. Die Alten und ich benutzen alle ein Handtuch. So lange, bis es steif ist und stinkt. Und? Bin ich davon krank geworden? Du bist ja schlimmer als zehn Mädchen.“
„Dann lieber Mädchen sein. Deshalb riechen die auch so gut.“
„Was weißt du, wie Mädchen riechen?“
„Hab sie gerochen – im Vorbeigehen.“
Schließlich hat Janosch zwei neue Handtücher ‚organisiert’. Das Wort geklaut vermied er meistens, weil Nick immer so komisch guckte. Er und viele andere Jungs und Mädchen hatten Tricks drauf beim Klauen, die keiner kannte. Die klauten nicht nur, was sie brauchen konnten. Nein, einfach alles, was sie sahen und vielleicht veräußern oder tauschen konnten. Er hasste das. Warum, das wusste er nicht. Vielleicht, so hatte er schon mal gedacht, weil die größten Klauer aus der Gang kamen – und das was die machten, hasste er grundsätzlich.
Er schnupperte an seinem Handtuch; es roch etwas muffig. Er würde sich eins aus der Wohnung holen müssen, damit er dieses im Waschsalon waschen lassen konnte. Er rieb sich schnell trocken und zog sich wieder an. Er langweilte sich, vermisste Janosch, trabte kreuz und quer durchs Jannickland, fand einfach keine Ruhe. In den Beinen kribbelte es und in der Nase begann es wieder nach dem Nuttenparfüm zu riechen. Er musste raus.
Als er aus dem Keller auf die Straße trat, sah er, dass sie nass war; ein Gewitterschauer hatte die Luft abgekühlt. Die Abenddämmerung glitt sanft in die von Straßenlaternen und Autoscheinwerfern bekämpfte Nachtschwärze. Von hier waren die Sterne nicht zu sehen, was, wie ihm einfiel, auch daran liegen konnte, dass der Himmel bedeckt war. Er holte die Fahne vom Mast und legte sie in den Keller. Sorgfältig schloss er ab. „Zwei Mal! Immer zwei Mal!“, hatte Janosch befohlen.
Im Hintergrund erhoben sich die klotzigen Gebäude der Siedlung, deren Kanten sich vom dunkelgrauen Himmel scharf abhoben. Im Asphalt spiegelten sich die Farben der Verkehrsampeln. Es war gespensterhaft still. So still, dass er mit dem Zeigefingerknöchel auf sein rechtes Ohr pochte, weil er dachte, es wäre Wasser drin.
„Vielleicht bin ich auch schon tot? Nee, ich spür ja alles andere. Das Scheißkreuz brennt wie Feuer seit dem Duschen. Ist bestimmt Seife drin. Tote merken gar nichts mehr. Denk ich mal. Aber wer weiß.“ Er ging auf den Wohnblock zu, zögerte, wechselte die Richtung und schlenderte durch die Ebertstraße zum Friedrich-Ebert-Platz. Am Rand der menschenleeren grauen Betonfläche blieb er stehen. Ab und zu tauchte ein Auto auf, verschwand in einer der Straßenschluchten, die von Geschäftshäusern und Plattenbauten gesäumt wurden. Mitten auf dem Platz stand auf hohem Sockel das Ebertdenkmal. Denkmäler hatte er noch nie gemocht. Weder die, bei denen ein bewaffneter Arm in den Himmel stieß, noch die anderen, bei denen ein ernst blickender Mann in ein steinernes Buch schaute, als wären darin alle Geheimnisse des Lebens erklärt. Letztere kannte er nur aus den Schulbüchern.
Er umrundete die Gedenksäule, blieb aber auf Distanz, als er ein Pärchen entdeckte, dass auf dem Sockel der Figur saß und sich befummelte.
„Was Pat jetzt wohl macht?“ Ganz plötzlich fiel sie ihm ein und er warf die Gedanken aus dem Kopf. Pat hatte er schon ewig nicht mehr gesehen. Die war manchmal wochenlang nicht da, wenn Ferien waren. War dann bestimmt bei den Verwandten im Westen, bestimmt fuhren die Alten von ihr immer da hin. Aber auch sonst kam sie nicht oft raus. Die war anders als die Mädchen in der Siedlung.
Er war lustlos, hatte keine Ahnung, was er tun konnte. Er wollte aber etwas machen, musste irgendwie die Leere füllen, die er fast schmerzhaft spürte. Er linste rüber zu den Leuten auf dem Denkmalssockel, die im Dämmerlicht ineinander verschmolzen. Der Junge stand mit dem Rücken zu ihm, hatte das Mädchen vor sich. Sie saß auf dem Schoß von Friedrich Ebert; er sah die weißlich schimmernden Beine des Mädchens im Rücken des Jungen hängen. Das Mädchen lehnte sich an den steinernen Friedrich Ebert und stieß im Sekundentakt kleine, gedämpfte Schreie aus.
„Scheiße, was die da machen! Regen sich über die Zigeuner auf und machen’s selber.“
Es war heiß unter der Schädeldecke, so heiß, als würde ein Feuer entflammt sein. Der ‚Andere’ summte und pochte in seinem Kopf. Die Wut kam plötzlich, überfiel ihn, presste alle freien Gedanken raus. Seit einigen Monaten passierte ihm das häufiger; anders und klarer als am Anfang. Es war jetzt manchmal so heftig, so drängend, dass er nicht mehr wusste, ob er es war oder dieses komische Ding in seinem Kopf. Es passierte sogar, dass alle Gedanken kreuz und quer durcheinander liefen und er sich erst einmal mit der Faust an den Schädel schlagen musste, um wieder Klarheit zu bekommen. Er glaubte manchmal, dass der ‚Andere’, der sich irgendwo in seinem Schädel eingenistet hatte, sein Feind war. Nie kamen gute Ideen, immer nur was mit Gewalt – gegen seinen Willen. Oft, zu oft, gewann der ‚Andere’. Manchmal ließ er ihn gewinnen, glaubte daran, was der ihm eingab. Nicht sehr oft, aber immer schämte er sich danach.
In seiner Erinnerung tauchten Bilder auf, die er nicht sehen wollte. Aber sie blieben, waren irre lebendig. Er kannte sie, diese plötzliche Wut. Sie kam, ohne dass er sie abwehren, oder sie zurückdrängen konnte. Er wusste noch genau, wann das war, als sich der ‚Andere’ erstmals meldete.
Damals hat er noch nicht der ‚Andere’ gedacht. Ohne zu begreifen, dass etwas anders war als sonst, lief das damals ab. Viel später erst, als es sich häufte, der Streit in seinem Schädel immer heftiger wurde, da hat er gedacht, dass da etwas in seinem Kopf war, was da nicht hin gehörte und hat verstanden, dass es nicht seine Gedanken waren. Der ‚Andere’ hatte sich da heimlich eingenistet. Irgendwann hat er begonnen, den Streit mit diesem ‚Anderen’ anzunehmen, ihn als real zu akzeptieren.
Diese Wut, damals … Es war ein Abend wie so viele zuvor, war wie immer alleine, hatte sich aufs Bett gelegt und war eingeschlafen.
„Du pennst, während ick für disch sorge. Für disch, du Baschtard. Hascht mein ganzches Leben kaputt gemacht. Du polnischer Balg!“ Sie stand, nein, sie schwankte zwischen den Türrahmen hin und her und glotzte ihn mit hervor quellenden Augen böse an. Ihr Pulli hing schräg über eine Schulter herunter, ließ eine Brust bis zur dunkelbraunen Warze sehen. Ihre Gesichtszüge waren entgleist, wie Janosch das nannte, wenn sie Besoffene beobachteten. Ihr Mund schlabberte, Worte verwischten, kamen zerquetscht über ihre feucht glänzenden Lippen. Wenn sie diesen Gesichtsausdruck hatte, den er so gut kannte und den er so sehr hasste, dann wusste er, was die Uhr geschlagen hatte. Irgendein Freier mit genügend Geld hatte sie abgefüllt und war mit ihr in ein Stundenhotel gegangen. Danach kam der Kater, der seelische und körperliche, wie Janosch das nannte. Ihre Mundwinkel hingen kraftlos herunter, die Augen glänzten eigentümlich und das ganze Gesicht bestand aus einem idiotischen Lächeln. Sie war total betrunken.
„Du bischt blöde, weischt du dassch?“, fragte sie, schwankte wie das Schilfrohr an der Warnow und hörte nicht auf zu grinsen. „N’ Krüppel bischte. Haste von dem Polen, der mich gebumst hat. Du gehörscht weg. Isch hab genuch von dir.“
„Ich bin nicht blöde. Du bist betrunken, Mama! Lass mich in Ruhe. Ich will nur, dass du still bist.“
„Du bisch kein Normaler. Isch dir doch klar? Vergast hätten se so wat, sagt man, damalsch bei Adolf.“
Die Wut war heiß, schoss durch den Kopf, verbrannte alle klaren Gedanken. Sein Körper wurde selbständig, schnell und schneller. Er stand vor ihr, bevor sie noch einmal den Mund öffnen konnte. Seine Faust traf sie mitten auf den sabbernden Mund, der nächste Schlag ließ ihre Nase bluten. Dann trat er zurück. Ganz langsam hob sich seine Linke, zeigte waagerecht ausgerichtet auf ihr Gesicht, auf die Augen, die ihn fassungslos anstarrten. Die drei Finger spreizten sich, bildeten eine Gabel mit messerscharfen Hornspitzen. „Du Schlange!“, schrie es aus ihm heraus und mit einem großen Schritt war er bei ihr, die Fingergabel traf ihren Hals, bohrte sich in die weiche Haut.
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