In den Wochen nach diesem schrecklichen Verlust ist er rum gelaufen, hat jemanden gesucht, der ihm Tabak geben könnte. Schließlich, als er einsehen musste, dass da nichts ging, hat er seiner Mutter fünf Euro aus der Geldbörse geklaut, hat Blut und Wasser geschwitzt, als sie am Abend ihre Barschaft zählte. Aber sie hat nur geknurrt: „Der Saukerl hat schon wieder wat geklaut. Na warte.“
Damals schwor er sich, nie mehr zu klauen; wegen dem furchtbaren Gefühl danach. Das ganze Geld hat er dann in einem Tabakgeschäft in Warnemünde gelassen. „Brasilianischen Tabak soll ich kaufen. Der von Mädchen gemacht wurde, hat Großvater gesagt“, hat er dem freundlichen Mann erklärt. „Fürs ganze Geld.“
„So? Fürs ganze Geld? Von rassigen Schönheiten mit brauner Haut? Ob das was für kleine Jungen ist?“ Aber er hat ihn bekommen. „Sind zwar nur ein paar Gramm, aber für einen Jüngling dürfte das zunächst mal reichen“, sagte der Tabakhändler, kniepte mit den Augen und gab ihm sogar die Hand.
Im Wäldchen, unter der knorrigen Eiche, hat er gesessen, bedächtig geraucht, den Rauch bewusst geschmeckt, an Brasilien gedacht und sich schließlich Bilder vom Großvater in den Kopf geholt; nicht von braunen Mädchen, die interessierten ihn nicht. Lebendige Bilder waren das. So gingen sie zum Beispiel an der Unterwarnow entlang, warfen Steine ins Wasser und Großvater zeigte ihm die Schiffe, erklärte ihre Herkunft, die Namen und welche Fracht sie transportierten.
„Früher, als wir noch keine Kräne hatten“, erzählte er, „mussten wir breite Rücken haben. Die schweren Säcke machten uns krumm und schief. Heute kannste sogar ohne Muckis die Riesenkähne entladen. Brauchst nur aufzupassen, dass du nich selber verladen wirst.“
Oder sie hockten am Kai in Warnemünde, ließen die Beine baumeln und schnupperten die Luft, die von See her ins Land drückte. Sie schwiegen und er hatte keinen Gedanken im Kopf; nur ein Glücksgefühl im Bauch. Viele Bilder mit seinem Großvater waren im Kopf und der Duft, der aus der Pfeife kam, weckte sie, ließ sie lebendig werden. Er musste nicht ein einziges Mal husten. „Siehste Großvater, hab schon gelernt. Kannste nur noch staunen, was?“, hat er ihm gesagt, als die Pfeife langsam erkaltete.
Als der Tabak alle war, versenkte er die Pfeife wieder im Schuhkarton. Das Abschiednehmen war vorbei. Er hatte begriffen, dass Großvater nie mehr mit ihm durch den Tag gehen würde. Die Bilder in seinem Kopf wurden weniger, je länger sie in der neuen Wohnung lebten, je länger seine Mutter mit diesem Mann zusammen war.
Die Pfeife, die der Großvater nie aus dem Mund nahm, außer, wenn er auf der Werft war, wenn er aß oder schlief, geriet langsam in Vergessenheit. Nur selten noch hat er sie rausgeholt, ein paar Mal daran gerochen und dabei an Großvater gedacht. Großvaters Bild war immer blasser geworden und schließlich konnte er sich nicht mehr an seine Stimme erinnern. Er hat sie geliebt, diese Pfeife, mindestens ein Jahr lang. Aber irgendwann hat er sie endgültig weggelegt und vergessen. Vor einigen Tagen, als der Alte auf Sauftour war und seine Mutter irgendwo rum hing, hat er sie zum ersten Mal wieder gesucht. Ohne Erfolg. Sie war nicht mehr im Schuhkarton, in dem nur ein paar Bilder von Fußballern des Vereins Hansa Rostock, ein Tennisball und eine zerfledderte, leider leere, Geldbörse lagen. Er wusste nicht, ob er sie verlegt hatte oder ob seine Alten ihn in den Müllschacht geworfen hatten.
„Komisch“, dachte er, „dass sie mir wieder eingefallen ist. Warum jetzt?“
Seitdem war es wie ein Zwang. Schon mehr als ein Jahr hatte er das ‚Schmaucherl’ nicht angesehen und jetzt wurde sie plötzlich so wichtig wie sonst was.
An dem Tag hat er sich vorgestellt, wie es wäre, wenn er eine Tasche finden würde. Das kam, weil er übers Schmaucherl und über ‚Finden’ nachgedacht hat – und über ‚Verlieren’, was ja damit zu tun hat.
Der Janosch hatte kürzlich festgestellt: „Nie ist was weg. Egal ob Geld oder ein Messer. Es ist nur woanders. Nichts kann sich in Nichts auflösen. He! Regel fürs Leben: Alles bleibt erhalten; nichts kann sich in Nichts auflösen. Das gilt! Das ist Gesetz!“
Darüber hat er lange nachdenken müssen. Das war eine so wichtige Regel, dass er sie von allen Seiten beleuchten musste. Also dachte er auch über die verloren gegangene Pfeife nach. Sie war nur woanders. Aber wo? „Alles, was man verliert, ist nicht wirklich weg. Ist nur im Kopf weg. Meistens ist es da, wo man’s zuletzt hingelegt hat. Ich finde sie. Wer weiß, was noch so alles rum liegt, was einer verlegt hat. Taschen voll Tabak – oder voll Geld.“
Seine Gedanken schlugen, wie so oft, wenn er lange nachgedacht hatte, Purzelbäume. Sie rissen etwas an, wurden vergessen oder er ließ sie als unwichtig ins Gras purzeln und fing neue Sachen an und so fort.
Wie so oft, fingen die Gedanken sich wieder, klammerten sich an einem der gerade gedachten Worte fest und spannen den Faden weiter. Er begriff, dass etwas erst wirklich verloren war, wenn es einer vermisste.
„Was niemand vermisst, kann ja dann nicht verloren sein. Wie viele Dinge sind weg und niemand hat sie jemals vermisst? Wenn ich … Ich könnte ja auch verloren gehen. Einfach so. Kann man? Einfach so? Also … Ja, wie? Verloren gehen? Ich vermisse die Pfeife. Genau. Die ist verloren gegangen. Genau. Mann, dann müsste mich einer vermissen. – Einer könnte mich finden. Egal wer. Zum Fundamt bringen. Dann würden die mich versteigern. Als Fundsache, für die keiner was gibt. Krüppel will keiner. Na ja. Auch nicht toll.“
Dann wollte er schon lieber so weiterleben. Auch, weil er sich vorstellen wollte, wie sie nach Amerika kommen könnten. Plötzlich fiel ihm bei dem Wort ‚Finden’ noch etwas ein: „Ich könnte die Tasche finden, die … Also, die diesem Mann von der Bank gehört. Wenn er sie, nur zum Beispiel, verloren hätte.“
Diese Gedanken ließen ihn nicht mehr los. Er spann den Faden weiter, ließ dem Gedanken freien Lauf.
Die Tasche legte jemand hinter den Brombeerstrauch und er fand sie, als er Brombeeren pflückte. Im Gras lag sie, war feucht und glänzte. Keiner konnte sie von der Straße aus sehen. Eine schwarze Tasche musste es sein. Er hatte sie genau vor Augen, weil genau diese Tasche der Mann von der Bank stets unter dem Arm trug, wenn er Feierabend hatte. Die Volksbank befand in der Marxstraße. Die mündete auf dem Friedrich-Ebert-Platz. Eine Bank für kleine Leute war das, nichts für Reiche. Die gab`s ja hier nicht. Der Banker wohnte nicht im Block. Der doch nicht! Nee, den sah er nur, wenn er abends über den Friedrich-Ebert-Platz stromerte und der Mann gerade die Bankfiliale abschloss. Der ging quer über den Platz, hatte die Tasche unter den rechten Arm und sah sich jede Minute um, als befürchte er, ein Gangster wolle sie ihm stehlen.
So wie der aussah, so stellte er sich Millionäre vor: groß, hager, mit einer scharfen Adlernase, misstrauische Augen, die blonden Haare straff nach hinten gekämmt. Eine Brille mit Goldrand trug der, immer einen grauen Anzug, ein weißes Hemd – nie trug einer aus dem Plattenbau ein weißes Hemd! –, mit dunkler Krawatte und dann noch schwarze Lackschuhe. Das war’s aber nicht alleine. Der ging nicht einfach daher wie, sagen wir mal, der Schlosser Berger aus dem Erdgeschoss oder wie die Drecksau. Nein, der zeigte mit jedem Schritt, dass da jetzt wer kam, der andres war. Reicher. Bedeutender. Der dachte bestimmt noch an die Tussi, die den ganzen Tag auf seinem Schoß saß und zuhörte, was er ihr sagte. Ein Handy hatte der; während er über den Platz lief, fummelte er schon daran rum und sprach lange.
Also die Tasche. Sie hatte ein silbernes Schloss, zu dem natürlich der Schlüssel fehlt. Aber Janosch hatte schon ganz andere Schlösser geknackt – sagte der wenigstens. Das an der Bootswerkstatt, an der rückwärtigen Tür, das hatte er nicht aufgekriegt. „Ist das erste Schloss, das ich nicht knacken kann. Aber das pack ich auch noch“, hat er verlegen gesagt, weil er zuvor was von ‚Kinderspiel’ gemurmelt hatte.
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