Nun wird Ludwig halb verrückt und fuchtelt mit den Armen in der Luft. Er springt herum und kickt, bis er zufällig die Tür mit seinem Fuß trifft. Der verrostete Nagel, der durch den Holzklotz geschlagen ist, fliegt davon wie ein Pfeil, und die Tür geht auf. Ludwig fällt hinaus und rollt den Hang hinunter.
In einem der wenigen Zimmer im Erdgeschoß des Hexenhauses steht Doris und späht durch ihr Fernglas aus Eulenaugen.
„Das hätten wir“, stellt sie fest. „Nun ist er wenigstens draußen.“
In der Zwischenzeit ist es Napoleon tatsächlich gelungen, ein paar Schritte im Krebsgang zu schleichen und sich zu drehen, so daß er sich an den bedeutend festeren Baumstamm anklammern kann. Er ist von der Anstrengung völlig matt, er zittert am ganzen Körper und kann kaum mehr schnaufen.
Ludwig kriecht zu der unglückseligen Fichte. Es ist da oben so still geworden. Was ist geschehen? Er kann im Dunklen nichts sehen.
„Nappechen! Napo! Napo! Napo!“ lallt er. „Ich bin ja jetzt bei dir, Nappechen! Hab keine Angst. Es wird schon gut werden ...“
Aber das einzige, was er hören kann, ist der stärker werdende Wind. Er wird immerzu stärker. Schwarze Wolken jagen über den Himmel. Jetzt schlägt der Wind einen anderen Ton an und fängt zu heulen und dann wie ein Riesenmonster zu brüllen an. Die großen Bäume werden hin und her gerüttelt. Die alten hohlen Baumstämme jammern, und Äste brechen ab.
Dort, wo Napoleon sitzt, weht und schwingt es wie auf einem davonbrausenden Hexenbesen. Die Pfoten schlafen ein, und es gibt nichts, worauf er den Blick richten und nichts, woran er sich festhalten kann. Und dann mit einmal ein Windstoß wie das Niesen eines Riesen, und die ganze Welt ist durcheinander, auf den Kopf gestellt und wie auch immer ... Es gibt weder Erde noch Himmel, weder oben noch unten, nur ein Herumtaumeln, rundherum in dem schwarzen Nichts, ohne Anfang, ohne Ende ...
Doch, ein Ende, ein Plumpsen und ein endgültiger Stopp. Napoleon liegt platt auf dem Boden, Hunderte von Metern von der Fichte entfernt. Hinter seinen geschlossenen Lidern kreisen Sterne und Monde, und als er vorsichtig die Augen öffnet, tanzen davor immer noch Sterne und schwarze Wolken wie Schleier.
Doris nimmt das Eulenfernglas von den Augen.
„Und jetzt ist er auch noch unten. Da habe ich so weit das Meinige getan.“
Jammernd, kriechend und schnüffelnd finden die beiden Unglücksbrüder wieder zueinander. Beide sind benommen, und körperliche Anstrengung und Mangel an Essen nicht gewohnt. Eine ganze Weile liegen sie nur keuchend nebeneinander auf dem Boden.
Als Ludwig schließlich die Augen aufmacht, sieht er, daß der letzte Lichtstreifen aus seinem Zuhause erloschen ist. Das Hexenhaus ist ganz schwarz. Er blinzelt verwirrt und streicht unbeholfen über Napoleons struwweliges Fell. Langsam dämmert ihm, daß sie im Augenblick tatsächlich ohne Haus und Herd sind. Seine Mutter hat nie zuvor besonders viel von ihm verlangt, aber sie hat es immer erst gemeint. Nun hat sie sehr viel mehr verlangt, und Ludwig sieht langsam ein, daß sie es wohl auch diesmal ernst mit ihnen meint.
„Nappechen“, flüstert er. „Wir müssen wohl doch das tun, was sie sagt. Damit alles wieder beim alten bleibt.“
Er seufzt schwer, und Napoleon rollt sich zusammen und zieht die Pfoten an.
„Es geht ja nur um ein paar Katzenfratzen“, meint Ludwig, um sich selbst und den Kater zu trösten. „Ein Kinderspiel, wenn wir nur ein bißchen schlau sind, verstehst du.“
Evelina läuft raschen Schrittes in den noch hellen Frühlingsabend. Sie kann nicht schnell genug ins Lager kommen, wo sie ihre Freunde wiedersehen wird. Sie weiß, daß sie auf sie warten, und sie wird heute abend eine ganze Menge lernen und sich auch amüsieren, so ist es meistens.
Sie ist sich nicht ganz sicher, wen sie am liebsten wiedersehen will. Doch, es wird wohl Jaja sein, trotz allem. Der lebensfrohe Jaja mit seiner Gitarre und seiner schönen Stimme. Aber sie freut sich auch auf die alte weise Wahrsagerin Kassandra. Die Baumstämme lichten sich endlich, und ein Hang führt zu einem kleinen See hinunter. Sie sieht den Rauch der Feuer und hört Stimmen in der Ferne. Bald kommen zwei braune, zottelige Hunde stürmisch auf sie zugelaufen, springen an ihr hoch und lecken unter fröhlichem Gebell ihre Hände. Ihnen folgen viele Kinder verschiedenen Alters und scharen sich um sie.
Sie kennt sie alle seit ihrer Geburt, und viele haben sie auch besucht. Nun wollen sie wissen, wie es bei Evelina zu Hause auf Puckel steht und wie es Cora geht. Sie freuen sich sehr, als sie erfahren, daß Cora Junge bekommen hat. Ein Hauch von Unruhe überfällt Evelina, wenn sie von Cora spricht. Aber niemand könnte wohl den kleinen Kätzchen im Haus etwas antun, wenigstens nicht der Fuchs. Aber ... Dennoch bleibt das unsichere Gefühl.
Jaja kommt in seinem bunten Hemd auf sie zugelaufen. Die schwarzen Locken flattern, aber als er näher kommt, entdeckt Evelina graue Strähnen in seinem dunklen Haar und kleine feine Falten um seine pfefferbraunen Augen. Ein Gefühl leichten Wehmuts, aber auch großer Zärtlichkeit, überkommt sie. Wieviel Spaß sie doch zusammen gehabt haben, die zwei. Jaja und Evelina.
„Alles in Ordnung, Jaja?“
„Ja, wenn du hier bist ist Allesin Ordnung“, lacht er und umarmt sie. „Du mußt sofort zu Kassandra – sie hat die Kugel säuberlichst geputzt und hat wie immer viel zu erzählen.“
„Ich freue mich, sie zu sehen“, lächelt Evelina.
„Ich hoffe nur, sie wird nicht allzuviel von deiner Zeit in Anspruch nehmen,“ sagt Jaja. „Ich sehe, du hast die Kanne mit. Überlaß sie mir, und ich werde mit Sergej sprechen.“
Seite an Seite, und während Hunde und Kinder um sie herumspringen, gehen Jaja und Evelina den Hang hinunter zu einem Wohnwagen, der ein Stückchen von den übrigen entfernt am See steht. Dort verbeugt sich Jaja leicht und geht winkend rückwärts davon. Die Kinder sind auch stehengeblieben, dann machen sie kehrt und laufen wieder den Hang hinauf. Alle haben große Achtung vor der Wahrsagerin und wissen, daß Evelina sie zuerst besuchen wird.
Kaum hat sie an die Tür geklopft, ertönt von drinnen eine rauhe Stimme:
„Tritt ein, Evelina!“
Evelina steigt in den Wagen. Er ist einfach eingerichtet; eine Pritsche, einige Holzfässer dienen als Stühle um einen runden Tisch, auf dem ein großer Samowar aus Silber, Porzellantassen mit allen Sternzeichen als Dekor und in der Mitte die berühmte Kristallkugel stehen. Die Kugel fängt alles im Zimmer auf und spiegelt es wie Sonnenlichtreflexe in allen Regenbogenfarben an den Wänden wieder.
Kassandra selbst steht am Tisch, klein und zart wie ein Vogel. Ihr Gesicht ist von all den Falten fast kariert, die kreuz und quer über Stirn und Wangen laufen. Die Augen sind schwarz, wach und glitzern vor Neugier.
Sie ist dabei, die Karten zu mischen. Sie fliegen blitzschnell zwischen ihren mageren, runzeligen Fingern und landen immer wieder in Sekundenschnelle auf ihren Platz.
„Komm nur herein, mein Kind, und setz dich hin! Wir wollen Tee trinken.“
Sie legt das Kartenspiel weg und zapft roten Tee aus dem Samowar. Er ist siedend heiß. Evelina hebt die Tasse und schlürft vorsichtig.
Kassandra stellt ihre Tasse hin und zündet sich eine weiße Kreidepfeife an. Blaue Rauchringe steigen aus ihrer Nase. Sie wirft einen Blick auf das Kartenspiel und dann auf Evelina.
„Ich habe schon für dich die Karten gelegt“, sagt sie. „Wir haben diesmal viel zu bereden. Ich sehe jetzt, daß deine Aura noch mehr ins Blaue leuchtet.“
„Und was bedeutet das?“ flüstert Evelina atemlos und bläst in den Tee.
Ihre Ohren sind aufs äußerste gespitzt. Alles, was Kassandra sagt, fällt ins Gewicht. Aber Kassandra läßt sich nicht unterbrechen. „Ich habe auch Scharfgarbenstiele gebrüht und im Satz gelesen“, fährt sie fort. „Du weißt sicher schon, daß du die doppelte Fähigkeit zu sowohl schwarzer als auch zu weißer Magie besitzt. Deine äußerst blaue Aura deutet darauf hin, daß du dich gerade in einer wichtigen Entwicklung befindest.“
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