Pah. Ich bin ein Weichei, weil mein Gesicht wehtut und ich nicht schlafen kann. Ich sollte diese Seite herausreißen und verbrennen, aber stattdessen werde ich nach unten gehen und mich mit Arbeit ablenken.
Später
Was zur Hölle macht Aaron Mornett hier?
Ich weiß , dass er es war. Er hat die perfekteste, liebenswürdigste Stimme, was absolut ungerecht ist. Jemand, der so hasserfüllt ist wie er, sollte eine angemessen hasserfüllte Stimme haben. Ich habe ihn im Korridor vor der Bibliothek gehört …
Ich sollte die Sache in eine Reihenfolge bringen. Ansonsten habe ich keine Hoffnung, einen Sinn darin zu erkennen.
Es war kurz nach Mitternacht. Ich war nach unten gegangen wie angekündigt. Weil es so spät war und weil ich von der nächsten Tafel bereits eine Kopie erstellt habe, drehte ich nur die kleine Tischlampe auf. Von außerhalb der Bibliothek sah der Raum sicherlich verlassen aus, weil ich die Tür hinter mir geschlossen hatte.
Die erste Stimme, die ich hörte, war die von Lord Gleinleigh. Es ist dumm, aber ich drehte die Lampe ab, weil ich nicht wollte, dass er auch nur einen schwachen Schein unter der Tür bemerken und sich bewusst würde, dass noch jemand wach war. Er hatte nach dem Chaos heute eine so üble Laune, und ich hatte auch so üble Laune, dass ich keinerlei Gespräch mit ihm führen wollte.
Ich hatte keine Ahnung, warum er noch wach war oder ob er wieder aufgestanden war wie ich, aber ich nahm an, dass er mit der Haushälterin oder dem Butler oder so jemandem über eine Haushaltsangelegenheit sprach. In einem Moment würde er wieder nach oben gehen, und ich könnte mich wieder an die Arbeit machen oder erneut mein eigenes Bett versuchen.
Genau dann hörte ich Mornett. Ich erkenne diese Stimme, sogar durch eine Bibliothekstür. Und dann wackelte der Türgriff, als hätte jemand seine Hand daraufgelegt.
Oh, ich schäme mich so über mich selbst! Ich hätte die Lampe wieder aufdrehen sollen oder zur Tür gehen, sie aufmachen und sie wie eine normale Person begrüßen sollen. Oder ihr Gespräch belauschen und so tun, als hätte ich gerade die Tür aufmachen wollen, falls sie einträten. Aber tat ich irgendwelche von diesen Dingen? Nein. Ich sprintete in Deckung. Alles nur, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, mitten in der Nacht mit völlig verschwollenem Gesicht und ohne Schuhe Aaron Mornett gegenüberzustehen.
Ich hätte ebenso gut sitzen bleiben können, denn sie kamen nicht herein. Aber das bedeutet, dass ich nicht wirklich hören konnte, was sie gerade sagten – nur gedämpfte Bruchstücke, keines von ihnen informativ. Mornett klang jedoch rasend vor Wut. Gleinleigh hielt seine Stimme zu leise, als dass ich viele Worte ausmachen konnte, aber ich hörte Mornett Dinge wie »inakzeptabel« und »wenn Sie glauben, ich werde …« sagen.
Wenn Gleinleigh glaubt, er wird … was?
Komm schon, Audrey. Du kennst die Antwort darauf. Das einzige Geschäft, das Aaron Mornett auf Stokesley haben könnte, schließt die Tafeln ein.
Bin ich es, wegen der er wütend ist? Oder Kudshayn? Oder wir beide. Unsere Arbeit hier muss ihm im Hals stecken wie zwei Hühnerknochen. Mornett ist jetzt schon seit einer Weile Mrs. Keffords Haus-und-Hof-Gelehrter – ich frage mich, ob die Konversation, die Lotte gesehen hat, Gleinleighs Versuch war, sie dazu zu kriegen, ihm Mornett auszuleihen. Als würde ich jemals mit Aaron Mornett arbeiten, nach dem, was er getan hat.
Wenn dieser Bastard auch nur in die Nähe dieser Tafeln kommt, werde ich ihn zu Asche verbrennen, genau wie ich es vor fünf Jahren hätte machen sollen.
FÜNF
JAHRE
ZUVOR
Von: Audrey Camherst
An: Charlotte Camherst
16. Seminis 5657
Clarton-Platz 3, Falchester
Liebste Lotte ,
willkommen daheim! Freust du dich nicht, nach deinem Besuch bei Mamas Familie zurück im verregneten alten Scirland zu sein? Seit Wochen habe ich mich jetzt bereit gemacht zu sagen, dass ich ohne mit der Wimper zu zucken den Platz mit dir tauschen würde – trotz tropischer Moskitoschwärme und allem anderen –, nur dass sich die Dinge in letzter Zeit interessant entwickelt haben. Ich bin so froh, dass du zurück bist, weil ich vom Drang, jemandem zu erzählen, was passiert ist, beinahe platze .
Ich war so überzeugt, dass meine Debütsaison nichts als Langeweile bieten würde. Jeder sagt, es ist nicht mehr das, was es früher war, damals zu ihrer Zeit – was die Art von Ding ist, die die ältere Generation immer sagt, aber in diesem Fall denke ich, es ist wahr. Und selbst wenn es noch das wäre, was es früher mal war, denke ich nicht, dass es mir Spaß machen würde. Du wirst wahrscheinlich eine tolle Zeit haben, sobald du alt genug bist, aber du kennst mich. Das ist überhaupt nicht mein Metier. Tanzen hier, Nachmittagstee dort, Reiten im Park … Letzteres ist nicht sehr erquickend, wenn man nie zuvor in seinem Leben auf einem Pferd gesessen hat. Also wenn es Gelegenheiten gäbe, sein Geschick beim Segeln vorzuführen, würde ich mich tatsächlich gut schlagen. Aber das, was dem überhaupt am nächsten kommt, ist es, auf kleinen Ruderbooten auf dem Immerway zu paddeln, und obwohl ich hervorragend paddeln kann, erwartet man von den Ladys, ruhig dazusitzen und die Gentlemen die Arbeit machen zu lassen. Das ist alles schön und gut für die, wenn sie ihre Kraft demonstrieren können (und ich habe dort draußen einen Kerl nur in einer Weste gesehen, wenn du das glauben kannst – er hatte auch wundervolle Arme), aber nicht direkt ein spannendes Erlebnis für die Ladys. Zumindest nicht, wenn man ich ist .
Aber! Ich hätte wissen sollen, dass Großmama mich das nicht alles durchleiden lassen würde. Sie erklärte mir an meinem ersten Tag in der Stadt, dass sie sich nicht im Geringsten darum schert, ob ich einen Ehemann finde oder nicht, außer ich möchte unbedingt einen finden, und als ich sagte, dass ich keine bestimmten Gedanken in diese Richtung hätte, nickte sie einfach und sagte: »Dann nehmen wir dich anderswo hin mit.«
Sie sagt, dass es, auch wenn die Saison nicht mehr das ist, was sie früher war, immer noch wichtig ist, sein Debüt zu machen, weil das der Punkt ist, wenn man die Kindheit hinter sich lässt und ein Mitglied der Gesellschaft wird. Sie meint, dass ich jetzt eine Erwachsene bin, im reifen Alter von achtzehn Jahren. Und als Erwachsene ist es Zeit, dass ich anfange, meinesgleichen und deren Vorgänger kennenzulernen .
Einige von ihnen habe ich natürlich schon früher getroffen, weil man kein Mitglied dieser Familie sein und nicht einen ganzen Haufen Gelehrter treffen kann. Aber weil ich mit Mama und Papa auf See war, heißt das, dass ich sehr viel von den gesellschaftlichen Verbindungen verpasst habe, die du gemacht hast, indem du in Scirland geblieben bist, und Großmama ist fest entschlossen, das aufzuholen .
Deshalb besteht meine Saison bisher aus sehr wenigen Tänzen und Nachmittagstees (allerdings der Form halber einigen von diesen), und sehr viel mehr literarischen Abenden und nachmittäglichen Vorträgen. Großmamas Äquivalent dazu, mich jedem verfügbaren Junggesellen vorzustellen, ist es, dafür zu sorgen, dass ich Leute aus allen möglichen Feldern treffe, nicht nur Philologie: Ich habe mich mit Geologen, Zoologen, Physikern, Chemikern und Massen anderer -logen unterhalten, ganz zu schweigen von Historikern, Geografen, Mathematikern und ein oder zwei Architekten. Ich muss gestehen, Lotte, die beeindruckende Qualität der Initialen M. P. K. nutzt sich ab, wenn man keinen Schuh werfen kann, ohne ein Mitglied des Philosophenkolloquiums zu treffen. Was wir auch manchmal über das Abendessen daheim sagen könnten, aber es ist anders, wenn es Fremde sind – bis man gesehen hat, wie einer jener Fremden etwas zu viel Brandy hatte und anfing, alle in Hörweite über die richtige Pluralbildung von »Oktopus« aufzuklären. (Er bestand darauf, dass es nach dem Nichäischen »Oktopodes« sein sollte.)
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