Und deshalb lässt sich die Illusion aufrechterhalten. Sie setzt voraus, dass ich mit den Dramen umgehen, zu passenden Maßnahmen greifen kann. Es besteht die Gewissheit, dass solche Maßnahmen existieren. Zusätzliche Aufmerksamkeit. Grenzenziehen. Lob. Gespräche mit den Eltern. Schulpsychologie.
Maßnahmen.
Möglich, akzeptiert. Ungetestet und vermutlich funktionierend. Ich will sie auch nicht hinterfragen. Natürlich sind sie fehlerhaft und können deshalb verändert werden. Das ist auch gut so. Die Veränderbarkeit spricht für den Willen des Systems sich zu verbessern.
Zumindest verlangt niemand, dass ich das, was wir als grundlegende Ideologie des Systems bezeichnen, kenne oder den Kindern erkläre. Wenn ich das richtig verstanden habe, kommt es überdies nur selten vor, dass die Eltern sich dafür interessieren, es gilt – sollte es überhaupt so weit kommen – als Informationsproblem, das mit Hilfe von ausreichender Information im gemeinsamen Einvernehmen gelöst werden kann. Ich finde das großartig.
Ich verhalte mich loyal den Bauklötzen gegenüber, den Kollegen, den Kindern und den Eltern. In dieser Loyalität gibt es keine Widersprüche. Wenn wir ausreichend mit Informationen versehen werden, haben wir dasselbe Ziel, das vermutlich – falls es formuliert worden ist – ziemlich vage aussieht, was ich für einen Vorteil halte.
Ich unterstütze dieses Ziel, unsicher wohl, pädagogisch unvollkommen, aber dennoch ausreichend.
Und ich genieße es. Ich genieße es, einfach zu deuten, innerhalb von ganz klaren und individuellen Rahmen, ich genieße die klar definierten Voraussetzungen und das unanfechtbare gemeinsame Ziel. Hier wird von mir nichts anderes gefordert als meine Zustimmung, ich brauche nicht nach versteckten Motiven oder Triebkräften zu suchen, so, wie ich das früher getan habe, als Lehrerin und eher persönlich, zusammen mit Silje. Auch bei Therese, der Therapeutin, der Heilerin, habe ich die verborgenen Motive gesucht, die dahinter liegenden Triebkräfte, die ich zu finden glaubte. Die Erregung, die eine solche Suche mit sich bringt, vermisse ich keineswegs. Im Gegenteil. Es ist ein wahrer Segen, davon befreit zu sein.
Ich akzeptiere die Einschätzungen meiner Kollegen, ihre Ideale und ihren Frust. Ich bin, von meiner Seite aus, dabei . Es gibt kleine fachliche und persönliche Meinungsverschiedenheiten, zu denen ich meistens keine Stellung beziehe, während ich Verständnis für beide Seiten zum Ausdruck bringe. Ich bin eine aufmerksame Zuhörerin, und ich erkenne den guten Willen aller an, die an unseren kleinen Meinungsverschiedenheiten teilnehmen.
Ich glaube, dass beide Seiten im Streit um das Gewinnerlos mich leiden mögen. Und ich glaube, dass es hier, wie bei den eher fachlich geprägten Diskussionen, im Grunde vor allem um persönliche Gegensätze geht. Um Chemie. Oder vielleicht um Altersunterschiede. Ich glaube zum Beispiel ganz einfach, dass meine Kolleginnen Ellen – die das Geld aus der Lotterie für ein Fest verwenden möchte – und Beate – die davon eine kulturelle Veranstaltung in die Wege leiten will – einander nicht ganz verstehen. Aber das wird sich noch ändern. Wenn wir ihnen nur genug Zeit geben. Und Aufmerksamkeit vielleicht. Über Ellen weiß ich, dass ihr Sohn sehr oft krank war. Davon wird sie leicht auffahrend und reizbar. Das ist doch verständlich.
Meine Unterstützung für die Ideale der Grundschule ist nicht geheuchelt. Sie kommt von Herzen, so wie der Wunsch meiner Kolleginnen und Kollegen, den Schulkindern veränderliche und wachstumsfähige menschliche Werte mitzugeben, von Herzen kommt. Ich glaube, es gelingt ihnen so gut, wie man das überhaupt verlangen kann.
Irgendwann einmal, lange, ehe ich hergekommen bin, war ich zutiefst in Deutungen verliebt, in die Unendlichkeit von Lesarten, zu denen das Fach Geschichte einlädt. Und natürlich hat diese Verliebtheit mich zeitweise zu einer guten Lehrerin gemacht. Ich glaube, ich kann sagen, dass einzelne meiner Stunden gelungene Vorstellungen waren. Es ist vielleicht nur ein Klischee, diese Verwandtschaft zwischen Schauspielerin und Lehrerin, und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es ein brauchbares Klischee ist. In beiden Fällen brauchen wir Techniken und Methoden und vor allem das wichtige Element der Begeisterung. Vielleicht auch das des Glaubens. Wenn meine sehr jungen Schülerinnen und Schüler an der Grundschule mich mit dermaßen offenen Gesichtern ansehen, dann liegt das daran, dass sie spüren, wie sehr ich hinter dem Text stehe, den ich ihnen liefere, so, wie wir merken, ob eine Schauspielerin hinter ihrer Rolle steht. Dass mein Glaube, wie das Alter der Schulkinder, sehr gering ist, ist weniger wichtig. Offenbar ist er groß genug.
Meine Verliebtheit – als ich sie noch hatte – war ansteckend, wie jede Verliebtheit. Es spielt vielleicht eine geringere Rolle, auf wen oder was diese Verliebtheit sich richtet. Auf einen Arsch. Einen Trottel. Eine Dunkelhaarige oder Blonde. Es kommt auf den Puls an, auf Erröten, Atemzüge. Und vielleicht sogar auf die Zuckungen.
Aus meiner eigenen Schulzeit kann ich mich am besten an eine Vertretungslehrerin erinnern, bei der wir Napoleon durchnahmen. Ich habe keine Ahnung, was sie in ihm sah, oder ob sie irgendeine Meinung über ihn hatte, ich glaube nicht, dass ich wirklich etwas über Napoleon oder über die gewaltigen Umwälzungen in der französischen Gesellschaft und in Europa gelernt habe, die ihn nach oben brachten und die er dann beschleunigte. Aber ich erinnere mich an ihre Vorstellung, an ihre roten Wangen, daran, wie sie mit den Armen fuchtelte und sozusagen vor der Tafel hin und her marschierte, um das Pult herum, zwischen den Tischreihen.
Ich erinnere mich an ihre Erregung. Die war fast beängstigend. Die roten Flecken an ihrem Hals. Erstaunlich und unerklärlich.
Puls. Und Napoleon. Die verschneiten Steppen. Ihr Rollkragenpullover, der vielleicht zum Erröten beitrug. Ich glaube schon, dass sie ihn bewundert hat. Es ist möglich, dass sie verdichtete, beschrieb, Gegenargumente lieferte, eine Leinwand aufspannte, auf der auch er auftauchte, aus Notwendigkeit oder durch Zufall, als erklärender Faktor oder zweifelhafter Höhepunkt, ich weiß es nicht.
An die Vorstellung kann ich mich erinnern. So, wie ich mich sonst nur an Bloßstellungen erinnere, an die peinlichen und zugleich freudigen Augenblicke, wenn vor allem unbeliebte Lehrer plötzlich gleichsam nackt vor uns standen, entweder als Folge unserer Vorbereitungen oder durch einen gnädigen Zufall. Wir sehnten uns natürlich nach peinlichen Vorstellungen, wir waren glücklich darüber, die Bloßstellung miterleben zu dürfen, den Fall, den flackernden Blick, das halbherzige Lächeln, das verriet, dass dieser Lehrer, dieser Vertretungsmensch, nicht wusste, was er da lieferte. Und dass alles, was von ihm kommen könnte, unsere Verachtung bestätigen würde, sie verstärken, immer weiter, bis endlich für ihn die barmherzige Stunde schlug und ihn unserer Begeisterung entzog.
Das war der Jubel der schlechten Vorstellung. Auch der ist groß. Und außerdem von Dauer.
Napoleon dagegen war eine gute Vorstellung. Schweigend nahmen wir sie entgegen, wie gelähmt vielleicht, überwältigt von Erröten, fuchtelnden Armen und diesem scheinbaren Marsch. Ich glaube nicht, dass wir später darüber gesprochen haben. Ich habe keine Ahnung, was diese Lehrerin mir sagen wollte. Ich kann mich nur an ihre schauspielerische Leistung erinnern.
Es kann sich vielleicht um eine Art universelle Tatsache handeln, vielleicht ist es immer so, dass die Vorstellung ihren Inhalt dominiert, egal, in welchem gefühlsmäßigen oder intellektuellen Raum sie abgehalten wird. Ich kann das problemlos so sehen. Es erklärt natürlich, warum ich die Ideale der Grundschule hochhalte. Ich nehme keine Deutung vor, die über die vorliegende, pädagogisch akzeptierte, hinausgeht. Ich bin sehr vorsichtig geworden. Ich erröte nur sehr selten, ich gerate nicht in Erregung.
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