Sie ist sehr energisch, wenn sie ihn zurechtweist, ich sehe ihr dann voller Interesse zu, wenn sie ihm gegenüber die Stimme hebt oder ihn mit großer Kraft auf den Boden drückt. Der Hund wimmert und hat Angst vor ihr. Schon bald darauf kann sie ihn umarmen, ihn hochheben, sich von ihm das Gesicht lecken lassen. So soll es sein. Er ist glücklich. Er kann nicht anders als ab und zu die Grenzen des Systems herauszufordern, und immer muss auf diese Herausforderung sofort reagiert werden. Es kommt nicht oft vor, aber Ragne staucht ihn jedes Mal zusammen, verbal oder physisch. Sie ist schnell und hart, reagiert sozusagen automatisch, glaube ich. Sie weiß mit hundertprozentiger Sicherheit, was nötig ist, um den Hund glücklich zu machen.
Das ist er. Das ist offenbar seinem Fell anzusehen, denn es ist dick und glänzt. Er kennt keine Verwirrung. Er schläft zu ihren Füßen, wenn sie in der Wärme des Ofens vor dem Fernseher sitzt. Sie kann den Hund atmen hören, sie hört meine Geräusche aus der Küche.
Ich glaube, sie fühlt sich hier geborgen. Sie schläft nachts gut, das tun wir beide. Ich kann mich nicht mehr an meine Träume erinnern. Ragne weiß ihre meistens noch, und es kommt vor, dass sie mir die Handlung erzählt, auf trockene, sachliche Weise, auch wenn die Träume bisweilen äußerst brutal wirken. Ich versuche nicht, durch ihre Träume mehr über sie herauszufinden, und sie deutet auch nicht an, dass das möglich oder interessant sein könnte. Ich durchsuche ihr Bücherregal nicht nach versteckten Spuren, und ihre Träume auch nicht. Wir setzen nicht voraus, dass die Nächte die Zerrbilder der Tage sind, Kammern für Entdeckungen von umwälzender Wirkung. Die Brutalität von Ragnes Träumen wird in der Ruhe aufgelöst, die sich morgens findet, in ihrer trockenen Nacherzählung. Dazu ist keinerlei Engagement vonnöten.
Ich weiß eigentlich nicht, was sie von mir will. Vielleicht soll ich einfach hier sein. Ziemlich sicher würde sie mich vermissen, wenn ich eines Tages nicht mehr hier wäre, aber sie würde nicht sterben oder auf irgendeine dramatische Weise verfallen, wenn ich verschwände. So ist das nicht.
Wenn ich nicht hier wäre, hätte sie den Hund und ihre Arbeit, und nach einiger Zeit würde sie eine andere finden, eine dunkelhaarige oder blonde Frau mit eigener Wohnung, mit einer Hütte, die sie am Wochenende mit dem Hund besuchen könnten, oder vielleicht einem Segelboot. Sie hätten eine gute Beziehung, würden nebeneinander durch den Wald gehen, wenn der Weg breit genug wäre, oder hintereinander, der Hund vorneweg, dann Ragne mit der Leine und zum Schluss die Dunkelhaarige oder Blonde mit der Thermoskanne im Rucksack.
Ragne würde mich ihr gegenüber erwähnen. Es ging nicht, würde sie sagen, es hat ein Jahr gedauert, oder zwei oder fünf, und dann ging es nicht mehr. Und der Dunkelhaarigen oder Blonden käme das bekannt vor, und auch sie hätte eine gehabt, die einmal da war und dann gegangen ist, oder die sie gebeten hat, zu gehen, obwohl eigentlich, würde sie sagen, wir ja beide wussten, dass es nicht ging.
Wir würden ab und zu telefonieren, und das wäre seltsam, aber nicht so seltsam, nicht unüberwindlich seltsam. Vielleicht würde Ragne einmal weinen, wenn sie und die Dunkelhaarige oder Blonde zu viel Wein getrunken hätten und es sich dann einfach so ergäbe. Aber vermutlich nicht. Sie hat nie geweint, wenn sie mir von ihren Exis erzählt hat. So nennt sie die, Exis.
Sie hatte viel mehr Beziehungen als ich, und ehrlich gesagt gehört es zu den Dingen, die mir an ihr wirklich gefallen, dass sie darauf stolz ist. Dass sie mehr Erfahrung hat als ich, wie sie sagt. Sie ist wohl ähnlich wie dann, wenn sie sich über den Hund beugt, ihr ein wenig triumphierendes Lächeln, mit dem sie auf ihre überlegene Erfahrung pocht, hat etwas Bezauberndes.
Sie mag hübsche Mädchen. In ihrem Fotoalbum hat sie Bilder ihrer meisten Exis, neben den Bildern des Hundes, ihrer selbst mit dem Hund, ihrer selbst und dem Hund und der letzten Exi, die nicht von langer Dauer war.
Sie sind hübsch. Dunkelhaarig oder blond, mit netten, ziemlich modernen Kleidern, niemals auf irgendeine Weise exaltiert. Sie sehen sympathisch aus. Es gibt jetzt auch Bilder von mir, im Wald mit dem Hund, hinter einer Tasse Kaffee in einem Straßencafé, wo ich mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne schaue, auf einem Felsen, den Arm um sie gelegt. Es scheint ein schöner Tag zu sein, über uns ein hoher Herbsthimmel, wir tragen Pullover und Turnschuhe.
Auch ihr Vater ist in der Albensammlung vertreten, natürlich. In einem kleinen dünnen mit schwarzen Seiten, von denen mehrere leer sind, es ist das einzige Album, abgesehen von dem, mit den Bildern von mir, das sie noch nicht vollgeklebt hat. Es gehört in eine Zeit, als Kamera und Film noch vorsichtig behandelt wurden, die Anzahl der Fotos ist bescheiden, so wie auch ihre Größe, sie sind so winzig, diese Schwarzweißbilder, die Menschen darauf sind bloße Andeutungen. Ihre Kleider, das Haus, vor dem sie stehen, das Auto, an das sie sich steif und abwartend anlehnen, das alles ist viel deutlicher zu sehen als ihre Gesichter.
Auf einem Bild hält Ivar einen Rechen in der Hand, er hat sich die Hemdsärmel hochgekrempelt, Ragnes Mutter steht ein Stück hinter ihm, die Kamera hat sie eingefangen, als sie gerade die Augen zukneift. Sie scheint im Stehen zu schlafen, der Schlaf einer Halbdebilen.
Aber es gibt auch ein Studioporträt von ihm, eine gedämpfte, retuschierte Nahaufnahme eines Neunzehnjährigen mit feucht gekämmter und vielleicht doch ein wenig kühner Frisur. Er hat Ragnes stumpfe Nase, oder sie seine, und außerdem den gleichen Mund mit der etwas schweren Unterlippe, die seinem Gesicht sogar dann etwas Schmollendes gibt, wenn er lächelt. Ein steifes Studiolächeln. Aber mit Augen, die direkt in die Kamera schauen. Die sie vielleicht herausfordern. Er hat noch keine Tochter, dieser junge Mann.
Sie findet, dass ich meinen Namen in meine Bücher im Regal schreiben soll. Sie hat das mit ihren gemacht, also kann es ohnehin keine Verwechslungen geben, aber trotzdem. Das ist praktisch. Wenn kein Name in den Büchern steht, vergessen die anderen, sie zurückzugeben, wenn sie sie ausgeliehen haben, sagt sie. Sie hat damit bittere Erfahrungen gemacht. Eine Exi hat noch immer zwei Bücher von ihr. Die Titel weiß sie genau.
Es riecht ein wenig nach feuchtem Hund, als ich ein spätes Abendessen koche, ich habe ein Feuer im Ofen gemacht, und bald werde ich nur noch den Geruch von Holz, Rauch und Asche wahrnehmen, der Hund wird im Halbkreis aus Wärme auf dem Boden schlafen, während sein Fell trocknet. Ich schneide Zwiebeln und Kürbis in Scheiben, Paprika in lange Streifen. Ich arbeite ziemlich langsam, ich habe Zeit genug, denn Ragne hat Spätschicht.
Aus der Stadt wird angerufen, sie sind besorgt. Sie sind besorgt und machen vorsichtig darauf aufmerksam. Mutters Stimme klingt heiser und hektisch, sie wirft die Wörter durcheinander und beendet ihre Sätze nicht. Irgendwo hinter ihr im Wohnzimmer steht Vater, ich kann ihn ab und zu etwas murmeln hören, was sagt sie, fragt er, wie geht es?
Mutter versucht diskret zu sein, aber sie hat ganz offenbar mit meiner Schwester Ylva über mich diskutiert, und ich ahne schon, dass sie im Laufe dieser Diskussion zu einer gemeinsamen Überzeugung gelangt sind, aber sie haben nicht vor, die mit mir zu teilen.
»Das musst du selbst entscheiden«, sagt Mutter, und das ist so ungefähr der einzige vollständige Satz, den sie hier abliefern kann.
Margrete ist nicht ganz so diskret, wenn sie anruft. Sie verweist dann auf eine Art ungeschriebenes Gesetz für Freundschaften, wo einer der mutmaßlichen Paragrafen sich auf die Pflicht bezieht, ein feedback zu geben.
»Dafür sind wir doch da«, sagt sie. »Als Korrektiv.«
Ich höre mir ihre Korrektive höflich an und finde mich in Margretes Sorge ziemlich korrekt nacherzählt und frage mich, ob sie, aus Gründen, aus denen ich hier bin zum Beispiel, geheimnisvolle Muster hervortreten sieht, sieht, wie mein Versagen und meine Niederlagen meinen neuen Alltag prägen und ihm eine düstere Bedeutung geben. Auch ich mache mir Sorgen, wenn ich auf diese Weise mit Margretes Sozialberaterinnenstimme nacherzählt werde.
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