Mit Illustrationen von David Dean
Aus dem Englischen von
Martina M Oepping
Der tapferen Carrie (17.10.1999 – 15.9.2012) gewidmet, die sich ganz mit Martine identifizierte und voller Leidenschaft eine bessere Welt für Nashörner und andere Tiere schaffen wollte.
• Kapitel 1 •
• Kapitel 2 •
• Kapitel 3 •
• Kapitel 4 •
• Kapitel 5 •
• Kapitel 6 •
• Kapitel 7 •
• Kapitel 8 •
• Kapitel 9 •
• Kapitel 10 •
• Kapitel 11 •
• Kapitel 12 •
• Kapitel 13 •
• Kapitel 14 •
• Kapitel 15 •
• Kapitel 16 •
• Kapitel 17 •
• Kapitel 18 •
• Kapitel 19 •
• Kapitel 20 •
• Kapitel 21 •
• Kapitel 22 •
• Kapitel 23 •
• Kapitel 24 •
«Wer zuerst unten im Tal ist», sagte Ben und zügelte Shiloh, sein neues Pony. «Der Verlierer muss nach dem Frühstück spülen.»
Martine brachte ihre weiße Giraffe zum Stehen, indem sie leicht an ihrer silberglänzenden Mähne zupfte. Manchmal fragte sie sich, was wohl passieren würde, wenn Jemmy sich jemals in den Kopf setzen sollte, nicht auf ihre kleinen Signale zu achten, sondern einfach weiter und weiter in die Wildnis von Afrika zu galoppieren – so lange, bis niemand je wieder von ihr hören würde.
Schließlich trug Jemmy weder Zaumzeug noch Sattel, er war auch nicht eine einzige Stunde lang abgerichtet worden, wie ein Pferd auf bestimmte Kommandos zu reagieren. Obwohl das Tier noch jung war, maß es schon fast fünf Meter, und das hieß, dass Martine, die auf seinem vorderen Rücken hockte, halsbrecherische drei Meter tief stürzen würde, wenn irgendetwas schiefging. Trotzdem war es ihre liebste Beschäftigung, auf der weißen Giraffe zu reiten, und Jemmys Rücken war der Ort, an dem sie sich am sichersten fühlte. Von dem Moment an, in dem sie Jemmy vor ungefähr einem Jahr zum ersten Mal sah, als er aus der Dunkelheit herangestürzt war, um sie vor einer angriffswütigen Kobra zu retten, hatte er sie behandelt, als sei sie so zerbrechlich wie ein frisch geschlüpftes Küken. Was Martine anging, war die Verbindung zwischen ihnen und die Liebe, die sie füreinander empfanden, die beste Versicherung, die sich ein Reiter nur wünschen konnte.
«Na, wie wär’s?» Ben blickte mit einem unschuldigen Ausdruck zu ihr hoch. «Ich meine, Jemmys Beine sind mindestens dreimal so lang wie die meines Ponys, also stehen die Chancen gut für dich. Aber ich wage es trotzdem.»
Martine schüttelte den Kopf über den frechen Vorschlag ihres besten Freundes. «Du glaubst wohl, ich bin auf der Brennsuppe dahergeschwommen! Ich kenn mich zwar mit Pferden nicht so aus, aber immerhin weiß selbst ich, dass du mit Shiloh die Böschung hinunterfliegst und die Straße erreichst, bevor Jemmy und ich auch nur zwei Schritte gemacht haben. Also, wie wär’s damit: Das Rennen geht den ganzen Weg bis zu der gelben Steineibe am Wasserloch? Das wäre schon eher fair. Bergab bist du bestimmt schneller, aber so habe ich wenigstens auf der Ebene eine Chance, dich einzuholen.»
Ben lachte. «Okay, aber unter einer Bedingung: Wenn du verlierst, machst du die ganzen nächsten zwei Wochen den Abwasch.»
Er nahm die Zügel auf und drückte seinem Pony die Schenkel in die Flanken. «Achtung! Fertig? Bis gleich an der Wasserstelle.»
Und damit war er weg, galoppierte mit Shiloh die kurze Strecke bis zum Beginn des steilen Wegs und verschwand pfeilschnell über den Rand der Böschung.
«Ben, warte!», rief Martine. «Denk dran, den Weg durch die Bäume zu nehmen, wenn du am Haus vorbeikommst. Wenn meine Großmutter uns dabei erwischt, wie wir durch das Wildreservat preschen, bringt sie uns um.»
Aber ihre Worte verloren sich in der afrikanischen Brise. Ben wurde von seinem hübschen Pony bereits wie im Flug den steilen Pfad hinuntergetragen. Seine Eltern hatten es ihm in der vergangenen Woche zu Weihnachten geschenkt. Seine indische Mutter hatte eine Girlande aus Blumen und Seidenbändern gebastelt, die sie Shiloh um den Hals hängte. Und sein Vater, ein großer, gut aussehender Zulu, der Kapitän eines Transportschiffs, hatte seinen Sohn damit überrascht, dass er das Pony geradewegs in die Küche der Wildtierfarm Sawubona führte, wo Martine mit ihrer Großmutter lebte. Die Stute war ein Basotho-Pferd, eine robuste Gebirgsrasse, die ursprünglich aus dem Königreich Lesotho stammte. Ben war gerade dabei, Martine und ihrer Großmutter Gwyn Thomas beim Zubereiten eines üppigen Mittagessens zu helfen. Er hatte von einer Pfanne mit Bratkartoffeln aufgeblickt und das Pony gesehen, wie es sich zur Tür hereinbeugte. Und auch jetzt noch streichelte Ben Shilohs kastanienbraunes Fell immer wieder voller Staunen. Er konnte es immer noch nicht glauben, dass dass das Pferd wirklich ihm gehörte.
Martine wurde in der Weihnachtszeit immer doppelt beschenkt, weil ihr Geburtstag auf Silvester fiel. Sie hatte sich über all ihre Geschenke gefreut. Von ihrer Großmutter hatte sie hellbraune Lederstiefel zum Buschwandern bekommen, zwei Pferdebücher und eine knöchellange Reithose, die am Po ein zusätzliches Polster hatte, damit sie bequemer auf Jemmy reiten konnte. Und gestern, bei ihrem Geburtstagsbrunch, hatten ihr Ben und seine Eltern noch eine neue Jeans geschenkt, die sie dringend brauchte.
Aber für Martine ging wirklich nichts über den Anblick von Bens Gesicht, als Shiloh am Weihnachtsmorgen die Auffahrt hochgetänzelt kam. Obwohl er gerade erst vor wenigen Monaten das Reiten gelernt hatte, war er der geborene Reiter. Pferde reagierten auf ihn wie Wildtiere auf Martine – als ob sie beide dieselbe Sprache sprächen.
Shiloh sollte auf der Koppel hinter ihrem Haus leben, und das bedeutete, dass Ben, der bei Tendai, dem Wildhüter von Sawubona, das Fährtenlesen erlernte, noch mehr Zeit im Reservat verbringen würde, als er das ohnehin schon tat. Martine konnte es kaum erwarten, bis es so weit war. Er könnte ihr dann immer Gesellschaft leisten, wenn sie ihre weiße Giraffe Jemmy ritt. Anstatt sich wie bisher mühsam zu zweit auf Jemmy zu halten – Ben sagte immer im Spaß, er bekomme dabei Höhenangst –, wäre es ihnen möglich, Sawubona zu erkunden, wann immer sie Lust dazu hatten.
«Das hättet ihr wohl gerne», hatte ihre Großmutter erwidert, als Martine den Fehler machte, ihre Gedanken laut auszusprechen. «Nur weil ihr in ein paar Wochen auf der Highschool anfangt, heißt das nicht, dass ihr über Nacht erwachsen geworden seid und überall frei im Reservat umherlaufen dürft. Keine Nachtritte, außer bei ganz besonderen Gelegenheiten! Und keine Ritte, die ihr nicht mit Tendai oder mir vorher abgesprochen habt! Nein, seht mich nicht so an. Du und Ben, ihr wisst es besser als alle anderen, dass das Wildreservat ein äußerst gefährliches Gelände sein kann.»
Es ist auch das schönste Gelände der Welt , dachte Martine und blickte über die rosafarbenen Umrisse von Sawubona. Bei Sonnenaufgang lag ein geheimnisvoller Nebelschleier über dem fernen Wasserloch und über den Wäldern und Tälern des Reservats. Wenn die heiße zartrote Sonne am Horizont aufging, zogen die Büffel, Zebras und Kudus langsam in die Ebene. Ihnen folgten die Elefanten mit noch tropfendem Rüssel von einem frühmorgendlichen Bad.
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