Wenn Flusser schreibt, und er tut es mit der Leichtigkeit des Atmens, übersetzt und rückübersetzt er denselben Text in die Sprachen, die er beherrscht: Deutsch, Englisch, Portugiesisch, Französisch.
Max Planck sagt in seiner Autobiographie, daß für die Entstehung eines originalen Gedankens zwei Bedingungen gegeben sein müssen: daß der «Schöpfer» dieses Gedankens frei ist und daß eine ganze Generation ausstirbt; denn erst die nächste wird in der Lage sein, ihn zu verstehen. Die Zeitgenossen sind festgelegt und versklavt, deshalb erschrecken sie vor dem Neuen. Das ist, kurz gesagt, Flussers Sünde: das Neue zu denken und dazu frei zu sein. Jeder, der in Kontakt mit seinen Ideen kommt, merkt, wie sehr sie mit dem in Beziehung stehen, was ihm täglich widerfuhr. Er kann sich nicht auf die Grundlagen seines Denkens beschränken, weil es ständig mit Fakten, welcher Art auch immer, konfrontiert wird. Die Fähigkeit, die Welt scharf zu beobachten und die Aktualität zu erfassen, wobei er beides durch klassische Konzepte filtert und eigene Konzepte entwickelt, machen Vilém Flusser zum Denker unserer «posthistorischen» Epoche. Es ist genau dieses Zusammenstimmen der Beobachtung der Fakten mit der darauf aufbauenden Reflexion, die uns den Eindruck des Wahrhaftigen vermittelt.
Was fehlt noch, damit dieser Eindruck zur Wahrheit führt? Isaías Kirschbaum antwortet: Erst die Zustimmung vergibt den Wahrheitsstempel.
Die Migration ist eine kreative Situation. Und eine schmerzhafte. Wer die Heimat verläßt (aus Zwang oder aus freier Wahl, und beides ist schwer zu unterscheiden), leidet. Denn tausend Fäden verbinden ihn mit der Heimat, und wenn diese durchschnitten sind, ist es, als hätte ein chirurgischer Eingriff stattgefunden. Als ich aus Prag vertrieben wurde (oder als ich die mutige Entscheidung traf zu fliehen), durchlebte ich den Zusammenbruch des Universums. Ich verwechselte mein Inneres mit der Welt da draußen. Ich litt unter dem Schmerz der durchschnittenen Fäden. Aber dann, im London der ersten Kriegsjahre und beim Vorahnen der Schrecken der Lager, begann ich, mir darüber klar zu werden, daß es nicht die Schmerzen eines chirurgischen Eingriffs waren, sondern die einer Entbindung. Ich merkte, daß die durchtrennten Fäden mir Nahrung zugeführt hatten und daß ich jetzt in die Freiheit geworfen war. Ich wurde vom Schwindel der Freiheit erfaßt, der sich darin zeigt, daß sich die Frage «frei wovon?» in die Frage «frei wozu?» verkehrt. Und so sind wir alle Migranten: Wesen, die vom Schwindel ergriffen sind .
Vilém Flusser hat uns etwas zu sagen. Etwas, um uns zu beunruhigen. Seien wir frei, ihn zu hören. Und nehmen wir frei das Recht zu denken wahr.
*Macunaíma, o Herói sem Nenhum Caráter (Macunaíma – der Held ohne jeden Charakter) ist der Titel des berühmtesten Romans des brasilianischen Schriftstellers Mário de Andrade.
Längst totgeglaubte Ungeheuer beginnen, sich im befreiten Osteuropa zu recken und zu strecken. Als ob nach jahrzehntelanger Vereisung die Drachenbrut des Nationalismus aus ihren Sauriereiern schlüpfen wollte, um sich in der Sonne des freien Marktes zu tummeln. Albanier in Kosovo, Ungarn in Transsilvanien, Armenier in Georgien werden umgebracht (und bringen wohl auch um), weil sie eine andere Sprache als jene ihrer Mitbürger sprechen. Und das ist nichts als zögernde Einleitung zu weiterem linguistisch fundiertem Gemetzel. Die Sache wäre unglaublich, hätte sie nicht Präzedenzen. Man würde meinen, Linguisten (Sprachtheoretiker und -praktiker) seien vonnöten, um diese Schlangenknäuel zu entwirren. Die Präzedenzen zeigen jedoch, wie hoffnungslos derartige linguistische Interventionen sind, selbst wenn sie sich selbst «Esperanto» nennen. Der vorliegende Aufsatz hat vor, darüber nachzudenken, warum übernationale Sprachen (nicht nur Zamenhofs «Esperanto», sondern auch «Interlingua» eines so gewaltigen Denkers wie Peano es war) scheitern müssen.
Angenommen, alle Leute würden überall die gleiche Sprache sprechen. Das würde voraussetzen, daß sie einander nichts Neues zu sagen hätten. Denn wo immer irgend etwas gesagt wird, das vorher noch nicht ausgesprochen wurde, dort verändert sich entweder der Wortschatz (neue Worte werden geschaffen), oder die Syntax (neue Sprachregeln entstehen); oder beides. Die Folge ist, daß an jenen Stellen, wo etwas Neues gesagt wird, Sprachveränderungen vor sich gehen, die sich langsam in der Gegend verbreiten, und sehr bald (in weniger als einer Generation) wird die Universalsprache in eine Reihe von einander zwar überschneidenden, aber doch sich verzweigenden Untersprachen zerfallen. Dagegen ist einzuwenden, daß es in der Vergangenheit Universalsprachen gegeben hat, die sich über viele Generationen hindurch als solche erhalten haben. Etwa die Koine im Hellenismus, das Kirchenlatein im Mittelalter oder Französisch im 18. Jahrhundert. Vorher scheint Aramäisch für lange Zeit diese Rolle gespielt zu haben, und gegenwärtig ist die englische Sprache als eine Art Koine anzusehen. Der Einwand ist jedoch nicht gültig. Derartige Universalsprachen ersetzen nicht die Nationalsprachen, sondern sitzen über ihnen, und sie dienen nicht dem Ausarbeiten neuer Informationen, sondern dem Übertragen von Informationen, die in den einzelnen Nationalsprachen ausgearbeitet wurden.
Aber man muß unter dem Begriff «Sprache» nicht unbedingt jenen Code verstehen, der aus «Phonemen» besteht, also aus Lauten, die wir mittels Zunge, Zähnen und Gaumen erzeugen. Es wird ja auch von Zahlensprachen, filmischen Sprachen, musikalischen und bildnerischen Sprachen, und vor allem von Computersprachen geredet. Und derartige Sprachen laufen ja quer über die Grenzen der Nationalsprachen und kümmern sich nicht um diese Grenzen. Nur gilt für solche Sprachen noch stärker, was oben von den Universalsprachen behauptet wurde. Sobald in ihnen neue Informationen ausgesagt werden, beginnen sie sich zu verzweigen und zu verzetteln. Komplexe mathematische Sprachen entstehen, die nur von wenigen Spezialisten «gesprochen» werden können – Beethovens Sprache ist eine andere als Mozarts, in den bildenden Künsten herrscht eine babylonische Sprachverwirrung, und das Problem der «Kompatibilität» der einzelnen Computersprachen untereinander wird trotz Esperanto-artigen Interventionen immer vertrackter. Was immer man mit dem Begriff «Sprache» meinen möge, ob «langue» oder «langage», jede Art von Universalsprache ist dazu verurteilt, bedeutungslose Aussagen zu machen (leerem Gerede zu dienen). Das ist am deutlichsten an der einzigen tatsächlich konsequenten Universalsprache, nämlich jener der symbolischen Logik, ersichtlich: Sie ist dafür gemacht, um leere Aussagen (Tautologien) zu artikulieren.
Das heißt aber noch nicht, daß Linguisten nichts zu dem widerlichen Gemetzel zu sagen haben, das aus sprachlichen Gründen in Osteuropa ansetzt und sich zu verbreitern droht. Im Gegenteil, sie können überhaupt erst zeigen, was sich dort ereignet. Und zwar, weil sie zeigen können, wie Nationalsprachen (und überhaupt «Untersprachen») entstehen. Sie entstehen dort und dann, wenn es gilt, neue Informationen zu artikulieren, für welche die ursprüngliche Sprache nicht kompetent war. Zum Beispiel sind die einzelnen romanischen Sprachen aus dem Latein des untergehenden Imperiums entstanden, weil es galt, in Gallien, in Iberien oder in Dakien etwas zu sagen, was in Italien nicht gesagt werden konnte. Demnach sind Nationalsprachen (und alle Untersprachen überhaupt) Werkzeuge zum Erzeugen von Neuem, kreative Instrumente. Sie sind alle, ohne Ausnahme, großartige Produkte des menschlichen Willens, Neues herzustellen. Alle Sprachen, ohne Ausnahme, sind Triumphe des Geistes in seinem Kampf gegen die Sturheit der Welt, in die wir geworfen wurden, und jede einzelne Sprache hat eine ihr eigene, nirgendwo anders zu findende Schönheit. Wer also seine eigene Sprache liebt, liebt alle anderen, denn erst im Vergleich zu anderen (etwa beim Übersetzen) erstrahlt die Schönheit der eigenen und der anderen Sprache.
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