Von seinem Gewissen beeinflußt wird der Mensch durch lange Gewohnheit eine so vollkommene Selbstbeherrschung erlangen, daß seine Begierden und Leidenschaften zuletzt fast augenblicklich und ohne Kampf seinen socialen Sympathien und Instincten, mit Einschluß seines Gefühls für das Urtheil seiner Mitmenschen, nachgeben. Der noch immer hungrige oder noch immer rachsüchtige Mensch wird nicht daran denken, Nahrung zu stehlen oder seine Rache auszuführen. Es ist möglich, oder wie wir später sehen werden, selbst wahrscheinlich, daß die Gewohnheit der Selbstbeherrschung wie andre Gewohnheiten vererbt wird. So kommt der Mensch selbst dazu, in Folge erlangter und vielleicht ererbter Gewohnheit zu fühlen, daß es das Beste für ihn ist, seinen dauernden Impulsen zu folgen. Das gebieterische Wort » soll « scheint nur das Bewußtsein von der Existenz einer Regel des Betragens zu enthalten, wie immer diese auch entstanden sein mag. Früher muß das Drängen, daß ein beleidigter Mann ein Duell auskämpfen solle, oft heftig gewesen sein. Wir sagen selbst, daß ein Vorstehehund stehen soll und ein Apportierhund apportieren. Thun sie es nicht, so erfüllen sie ihre Pflicht nicht und handeln unrecht.
Wenn irgend eine Begierde oder ein Instinct, welcher zu einer dem Besten Anderer entgegenstehenden Handlung führt, einem Menschen, wenn dieser sich ihn vor die Seele ruft, noch immer als ebenso stark oder noch stärker als sein socialer Instinct erscheint, so wird er kein heftiges Bedauern fühlen, ihm gefolgt zu sein; er wird sich aber dessen bewußt sein, daß, wenn sein Betragen seinen Mitmenschen bekannt würde, er von ihnen Mißbilligung erfahren würde, und nur Wenige sind so völlig der Sympathie bar, um nicht Mißbehagen zu empfinden, wenn dies eintritt. Hat er keine solche Sympathie und sind seine Begierden, die ihn zu schlechten Handlungen leiten, zu der Zeit stark und werden sie, vor die Seele zurückgerufen, nicht von den persistenteren socialen Instincten und der Beurtheilung Anderer bekämpft, dann ist er seinem Wesen nach ein schlechter Mensch, 264und das einzige ihn zurückhaltende Motiv ist die Furcht vor der Strafe und die Überzeugung, daß es auf die Dauer für seine eigenen selbstischen Interessen am besten sein würde, mehr das Beste der Andern, als sein eigenes in's Auge zu fassen,
Offenbar kann Jeder mit einem weiten Gewissen seine eigenen Begierden befriedigen, wenn sie nicht mit seinen socialen Instincten sich kreuzen, d. h. mit dem Besten Anderer; aber um völlig vor seinen Vorwürfen sicher zu sein oder wenigstens vor Unbehagen, ist es beinahe nothwendig, die Mißbilligung seiner Mitmenschen, mag sie gerechtfertigt sein oder nicht, zu vermeiden. Auch darf der Mensch nicht die feststehenden Gewohnheiten seines Lebens, besonders wenn dieselben verständige sind, durchbrechen; denn wenn er dies thut, wird er zuverlässig ein Unbefriedigtsein empfinden; auch muß er gleichzeitig den Tadel des einen Gottes oder der Götter vermeiden, an welchen oder an welche er je nach seiner Kenntnis oder nach seinem Aberglauben glauben mag. In diesem Falle tritt aber oft noch die weitere Furcht vor göttlicher Strafe ein.
Fußnote
257 Hume bemerkt (An Enquiry concerning the Principles of Moral; edit. 1751, p. 132): »es scheint das Bekenntnis nothwendig zu sein, daß das Glück und Unglück Anderer uns keine völlig indifferenten Schauspiele sind, daß im Gegentheil die Betrachtung des ersteren ... uns eine heimliche Freude befreitet, während das Auftreten des letzteren ... einen melancholischen Schatten über unsere Phantasie breitet«.
258Mental and Moral Science. 1868, p. 254.
259Ich beziehe mich hier auf den Unterschied zwischen dem, was man materielle , und dem, was man formelle Moralität genannt hat. Ich freue mich, zu sehen, daß Prof. Huxley (Critiques and Adresses, 1873, p. 287) dieselbe Ansicht hat. Mr. Leslie Stephen bemerkt (Essays on Free Thinking and Plain Speaking, 1873, p. 83): »der metaphysische Unterschied zwischen materieller und formeller Moralität ist so irrelevant wie andere derartige Unterschiede«.
260Ich habe einen solchen Fall, den von drei patagonischen Indianern, von denen sich einer nach dem andern erschießen ließ, statt die Pläne ihrer Kriegskameraden zu verrathen, erzählt in meiner »Reise eines Naturforschers« (Übers, von J. V. Carus ), p. 117.
261Feindschaft oder Haß scheint gleichfalls ein in hohem Maße andauerndes Gefühl zu sein, vielleicht mehr als irgend ein anderes, was etwa angeführt werden könnte. Neid wird definiert als Haß eines Andern wegen irgend eines Vorzugs oder Erfolgs. Bacon betont (Essay IX): »von allen andern Affecten ist Neid der zudringlichste und beständigste«. Bei Hunden kommt es leicht vor, daß sie sowohl fremde Menschen als fremde Hunde hassen, besonders wenn sie in der Nachbarschaft leben, aber nicht zu derselben Familie, zu demselben Stamm oder Gefolge gehören. Hiernach möchte das Gefühl angeboren zu sein scheinen, und es ist sicherlich ein äußerst andauerndes. Es scheint das Complement und der Gegensatz des echten socialen Instincts zu sein. Nach dem, was wir von den Wilden hören, gilt allem Anschein nach etwas dem Ähnliches auch für sie. Wenn dies der Fall ist, so wäre es nur ein kleiner Schritt, um bei Jedem solche Gefühle auf irgend ein Mitglied desselben Stammes zu übertragen, wenn ihm dies einen Schaden zugefügt hätte und sein Feind geworden wäre. Auch ist es nicht wahrscheinlich, daß das primitive Gewissen eines Menschen darüber Vorwürfe machen würde, daß er seinen Feind schädigt; es würde ihm eher vorwerfen, daß er sich nicht gerächt habe. Gutes zu thun in Erwiderung für Böses, den Feind zu lieben, ist eine Höhe der Moralität, von der wohl bezweifelt werden dürfte, ob die socialen Instincte für sich selbst uns dahin gebracht haben würden. Nothwendigerweise mußten diese Instincte, in Verbindung mit Sympathie, hoch cultiviert und mit Hülfe des Verstandes, des Unterrichts, der Liebe oder Furcht Gottes erweitert werden, ehe eine solche goldene Regel je hätte erdacht und befolgt werden können.
262Insanity in Relation to Law; Ontario, United States, 1871, p. 14.
263 E. B. Tylor , in: Contemporary Review. April, 1873, p. 707.
264Dr. Prosper Despine bringt in seiner »Psychologie naturelle« 1868 (Tom. I, p. 243; Tom. II, p. 169) viele merkwürdige Fälle von den schlimmsten Verbrechern, welche dem Anscheine nach vollkommen eines Gewissens entbehrten.
Die eigentlichen socialen Tugenden zuerst allein beachtet . – Die oben gegebene Ansicht von dem ersten Ursprung und der Natur des moralischen Gefühls, welches uns sagt, was wir thun sollen, und des Gewissens, welches uns tadelt, wenn wir jenem nicht gehorchen, stimmt ganz gut mit dem überein, was wir von dem früheren unentwickelten Zustand dieser Fähigkeit beim Menschen kennen. Die Tugenden, welche wenigstens im Allgemeinen von rohen Menschen ausgeübt werden müssen, um es zu ermöglichen, daß sie in einer Gemeinsamkeit verbunden leben können, sind diejenigen, welche noch immer als die wichtigsten anerkannt werden. Sie werden aber fast ausschließlich nur in Bezug auf Menschen desselben Stammes ausgeübt; und die ihnen entgegengesetzten Handlungen werden, sobald sie in Bezug auf Menschen anderer Stämme ausgeübt werden, nicht als Verbrechen betrachtet. Kein Stamm würde zusammenhalten können, bei welchem Mord, Räuberei, Verrätherei u. s. w. gewöhnlich wären; in Folge dessen werden solche Verbrechen innerhalb der Grenzen eines und desselben Stammes »mit ewiger Schmach gebrandmarkt«. 265erregen aber jenseits dieser Grenzen keine derartigen Empfindungen. Ein nordamerikanischer Indianer ist mit sich selbst wohl zufrieden und wird von anderen geehrt, wenn er einen Menschen eines anderen Stammes scalpiert, und ein Dyak schneidet einer ganz friedlichen Person den Kopf ab und trocknet ihn als Trophäe. Der Kindesmord hat im größten Maßstabe in der ganzen Welt geherrscht 266und hat keinen Tadel gefunden; es ist im Gegentheil die Ermordung von Kindern, besonders von Mädchen, als etwas Gutes für den Stamm oder wenigstens nicht als schädlich für denselben angesehen worden. In früheren Zeiten wurde der Selbstmord nicht allgemein als Verbrechen betrachtet, 267sondern wegen des dabei bewiesenen Muths eher als ehrenvolle Handlung; und er wird noch immer von einigen halbcivilisierten und wilden Nationen ausgeübt, ohne für tadelnswerth zu gelten, denn er berührt nicht augenfällig Andere desselben Stammes. Man hat berichtet, daß ein indischer Thug es in seinem Gewissen bedauerte, nicht ebensoviele Reisende stranguliert und beraubt zu haben, als sein Vater vor ihm gethan hatte. Auf einem niedrigen Zustand der Civilisation wird allerdings die Beraubung von Fremden meist für ehrenvoll gelten.
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